André Bücker, Intendant des Staatstheaters Augsburg, im Gespräch mit Jürgen Kannler
Am Wochenende war im martini-Park die Premiere von »Der Sturm«, William Shakespeares letztem Stück, einer Zauberkomödie. Als Rahmen haben Sie Ihre eigenen Häuser als Ort nicht enden wollender Baustellen gewählt. Der Abend kam beim Premierenpublikum recht gut an. Wie war darüber hinaus das Echo auf die Inszenierung?
Das weiß ich ehrlich gesagt noch gar nicht wirklich. Aber ich hatte auch einen positiven Eindruck. Was ich bemerkenswert fand, ist, dass das Augsburger Premierenpublikum, das ich bisher als eher reserviert erlebt habe, diesmal anders war. Die Menschen waren von der ersten Minute an total dran, es war eine offene Stimmung. Das war sehr schön. Die Zusammensetzung des Premierenpublikums hat sich seit der Schließung des Großen Hauses und dem damit verbundenen Umzug in den martini-Park und auf das Gaswerkgelände etwas gewandelt. Es gibt heute zwar weniger Plätze, doch wirken die Besucher*innen entspannter, zwangloser und auch neugieriger als früher. Die Schließung hat dem Theater erst einmal gutgetan, könnte man sagen. Das ist für mich schwierig zu beurteilen. Es ist ja auch die Frage, welche Zeit mit »früher« gemeint ist. Ich habe lediglich den Eindruck, dass nun öfter unterschiedliche Menschen in den Rängen sitzen, und habe mich natürlich gefreut, dass wir bei der Premiere des »Sturm« bis auf den letzten Platz besetzt waren.Die Inszenierung bietet allerhand Verweise in die Gegenwart: Fridays for future, der rechte Terroranschlag in Halle, das Flüchtlingsdrama auf dem Mittelmeer bis hin zur umstrittenen Baustelle am Kennedyplatz. Eignet sich Shakespeare besonders dafür, Tagespolitik auf die Bühne zu bringen?
Ja, vielleicht. »Der Sturm« ist Komödie und politisches Stück ebenso wie melancholischer Abschied und Märchen. Er ist vier Stücke in einem. Alles ist ineinander verwoben. Im »Sturm« gab es immer schon Songs, einen Epilog, der offen zum Publikum gesprochen wird. Da öffnete Shakespeare die vierte Wand. Und man hat nicht zuletzt das pralle Komödiantisch-Volkstheaterhafte. Seit 400 Jahren zeigt sich dieses Stück für die Gegenwart aufgeschlossen. Dieses Angebot nutzen wir.Sie haben bei dieser Inszenierung Regie geführt und sich dabei als Mann mit Humor gezeigt. Die Bildsprache erinnert zuweilen an Ihre ersten Spielzeitbücher mit Aufnahmen von Jan-Pieter Fuhr. Seine Fotos zeigten neben Baustellen vor allem absurden Stillstand und Irrsinn. Im Intro haben Sie das Konzept damals als Spiegel einer Stadt in Entwicklung verkauft. Eigentlich ganz schön dreist. Der Spaß im Dissonanten, an dem Ort, wo es zu Reibungen kommt, ist immer interessant.
Sie sind also ein Sohn Karl Valentins.
Valentin war der Größte in solchen kognitiven Dissonanzen.Und Sebastian Baumgart durfte in dieser Nachfolge als Ferdinand zigtausend Säcke im martini-Park schleppen und wird von Miranda nun auf der Baustelle am Kennedyplatz auf Dauer zwangsverpflichtet. Das ist eine kleine Umwandlung, die wir uns erlaubt haben. Wir haben aus Holzstücken Zementsäcke gemacht. Ferdinand muss das leisten und will das auch. Das erinnert natürlich an Sisyphos, die komplette Absurdität. Man hat diese Assoziationen beim »Sturm« ständig. Auch bei der Figur des Prospero. Wie respektlos er mit seinem eigenen Werk umgeht – das hat eine große Komik, teilweise aber auch eine große Traurigkeit. Klaus Müller macht das in der Titelrolle sensationell. Alle machen das toll, alle haben sich unglaublich reingeschmissen und das Stück verdichtet.
Und der Schlussmonolog?
Stimmt. Das muss man erst einmal machen – den 5. Akt mehr oder weniger streichen. Er wurde gar nicht wirklich vermisst, wie mir scheint.Sie haben die Massenkompatibilität des Stücks bedient. Das ist ja auch Teil Ihrer Aufgaben, wenn man der Kulturpolitik glauben darf. Sie fordert die Öffnung des Hauses, auch hin zu den Milieus, die noch »theaterfern« sind, um diese Vokabel zu bemühen. Das war auch Teilergebnis des Bürgerbeteiligungsprozesses zur Theaterlandschaft vor drei Jahren. Welches Ihrer Projekte wird diesem auch Öffnungsprozess genannten Vorgang denn im Besonderen gerecht?
Es gibt davon bereits eine solche Fülle, man möchte das oft gar nicht vermuten. Ich kann da nicht werten. Ich glaube, dass wir mit jedem einzelnen Projekt das Ergebnis am Ende definieren. Es gibt die Vielfalt der Projekte im Plan-A, die Kooperationsverträge mit den Schulen, die Zusammenarbeit mit dem Theater Interkultur, dem tim, den Kirchen, dem Sensemble usw. Ich möchte keines herausheben. Vor allem in der Summe haben sie Bedeutung.Die Show mit Franz Dobler fand zuletzt keinen Platz mehr im Jahresprogramm des Staatstheaters, obwohl die angesetzten Montagabende schöne Erfolge waren.
Das ist wahr. Und schade. Aber leider auch dem Umstand geschuldet, dass wir hier mit den Interimsstätten und der Transformation vom Stadt- zum Staatstheater zuweilen wirklich an unsere Leistungsgrenzen und darüber hinaus gefordert waren und sind. Aber das Angebot für neue Folgen ging an Franz Dobler, wenn auch etwas später, als wir es uns alle gewünscht hätten. Nun klappt das terminlich bei ihm leider nicht. Aber vielleicht kommen wir später wieder zusammen. Ich würde mich freuen.Wirklich »theaterfernes« Publikum erreichen Sie mit den genannten Formaten aber kaum. Müsste man den geforderten Öffnungsprozess nicht erst einmal präziser formulieren?
Ja, natürlich. Das »theaterferne« Publikum, um bei diesem Begriff zu bleiben, ist extrem unterschiedlich. Es gibt keine x-tausend Menschen, die plötzlich an der Kasse stehen, nur weil wir unsere Angebote den gesellschaftlichen Realitäten anpassen. Der Prozess ist langfristig angelegt und es gelingt uns bereits, Menschen neu zu erreichen. Da zeigen sich schon Erfolge unserer Strategie. Ich denke, die Schwellenangst für neue Besucher*innen im martini-Park oder in der neuen brechtbühne im Gaswerk ist heute geringer als vielleicht noch vor einigen Jahren beim Großen Haus. Das Thema Öffnung ist ein Prozess in ständiger Bewegung. Da ist es unmöglich, ein Endergebnis oder einen Endpunkt zu definieren.Ich hake noch einmal nach, auch weil ich vermute, dass es in dieser Diskussion nicht ganz klar ist, was genau die jeweiligen Gesprächspartner meinen, wenn sie von Öffnung sprechen. Und letztendlich ist es ja auch okay, wenn es Leute gibt, die sich nicht für Theater interessieren.
Klar. Die wird es auch immer geben. Aber eben oft auch aus Unkenntnis oder Unsicherheit heraus. Vielleicht weil sie in ihrer Biografie nie wirklich einen guten Kontakt mit Theater hatten. Wir versuchen darum in verschiedensten Formen, sei es Marketing, spezielle Programme, Theaterpädagogik usw., Dinge aufzubrechen, Menschen anders zu erreichen. Und wir haben damit tolle Erfahrungen gemacht. Wir wollen Momente schaffen, sodass Menschen offen dafür werden. Es ist ein kommunikativer Prozess. Man muss dafür Barrieren auf allen Seiten abbauen. Was mich gefreut hat, war zum Beispiel die unglaublich positive Resonanz auf unser Projekt mit der Rudolf-Steiner-Schule oder die Audiodeskription auf der Freilichtbühne. Da haben wir gesehen, wie viele Leute auf solche Initiativen warten. Für die ist das wichtig. Für uns aber auch.Angebote für Menschen zu schaffen, die auf Angebote warten?
Und die eine Gruppe darstellen, die man nicht automatisch auf dem Schirm hat und die, wenn man sich das einmal bewusstmacht, gar nicht so klein ist. Das umzusetzen ist eine Frage von Zielgerichtetheit, von Kommunikation und Offenheit von unserer Seite. Da wollen wir mehr machen und besser werden. Das hat aber oft auch etwas mit Ressourcen, Personal und Geld zu tun.Das bedeutet auch, dass man als Theater Politik mitgestaltet. Sehen Sie Kulturmacher*innen in der Pflicht, sich politisch zu positionieren?
Parteipolitisch nicht, aber gesellschaftspolitisch. Wir sind eine öffentliche Institution: Wir machen Meinungen und Positionen öffentlich, wir machen künstlerische Projekte öffentlich, das ist immer mit einer gesellschaftspolitischen Stellungnahme verbunden. Und ich finde es wichtig, dass wir uns zu politischen Vorgängen, die gerade virulent sind, äußern.Da wird man aber zwangsläufig sehr schnell mal parteipolitisch.
Es ist wichtig, Position zu beziehen. Gerade in Zeiten, in denen nationalistisches, rassistisches, völkisches Gedankengut in der Diskussion Normalitätsstatus erreicht oder Dinge vorfallen wie zuletzt in Halle. Da kann man nicht zur Tagesordnung übergehen. In unserem Betrieb sind die Religionen vielfältig vertreten. Wir haben 30 Nationalitäten im Haus und wir versuchen, diese Vielfalt als Betrieb zu leben. Das müssen wir auch nach außen dokumentieren.Die Arbeit des Staatstheaters wird von der Politik weitgehend positiv bewertet. Vor Kurzem hat sich auch Kulturminister Bernd Sibler in einem Interview mit a3kultur in diesem Sinne geäußert. Zu einer Prognose, wie es mit André Bücker als Intendanten in Augsburg weitergeht, wollte er sich jedoch noch nicht hinreißen lassen. Die Vertragsverlängerung steht jedoch ins Haus.
Das hat aber noch etwas Zeit. Ich möchte in zehn Jahren auf alle Fälle nicht mehr hier im martini-Park sein. Ich gehe heute davon aus, dass das Große Haus als Theater in absehbarer Zeit bezugsfertig sein wird. Was wohl nicht für alle Module des Betriebs gilt. Man muss genau beobachten, wie sich das als Ganzes entwickelt. Das ist auch Teil der Frage nach meiner persönlichen Perspektive hier.Bei Terminen in München habe ich Ihren Kollegen Christian Stückl getroffen. Dabei ging es auch um den Theaterneubau des Volkstheaters. Die Kolleg*innen in der Landeshauptstadt sind im Gegensatz zu Augsburg sowohl im Etat- als auch im Zeitplan. Als Intendant des Volkstheaters steht er anders als Sie in vorderster Reihe, wenn es darum geht, das Neubauprojekt zu präsentieren.
Das ist sicherlich so. Christian Stückl ist eine Institution in München. Das Volkstheater ist sozusagen Christian Stückl. Es gibt deutschlandweit keinen vergleichbaren Intendanten. Das ist eine Besonderheit. Wenn man so lange vor Ort verankert und verwurzelt ist, steht man anders in der Diskussion. Ich bin in diesen Prozess ja erst hineingekommen. Das kann man kaum vergleichen. Hier in Augsburg hat die Stadtpolitik beim Theaterbau den Hut auf. Wir sind allerdings ganz eng angedockt und intensiv in alle Planungen miteinbezogen. Das funktioniert sehr gut. Die Sanierung wurde ja intensiv diskutiert. Meine Haltung ist klar: Es wäre zutiefst absurd, das Theater nicht zu bauen oder es kleiner zu machen.Von der Stadt kann gegenwärtig niemand verbindlich sagen, wie der neue Theaterbau in Augsburg als Ganzes letztendlich aussehen wird. Entwürfe wurden geändert. Die Finanzierung wackelt. Das zeigt, dass das Projekt alles andere als sicher ist.
Das ist eine Frage, die uns alle sehr beschäftigt, wenn wir über Perspektiven sprechen. Das sind Punkte, die geklärt werden müssen. Wir haben uns positioniert und dies auch formuliert. Wir stehen hinter dem verabschiedeten Anforderungsprofil, und wenn es so und so viel kostet – das ist dann so. Unter diesem Profil zu bleiben, macht keinen Sinn. Es macht auch keinen Sinn, auf Dauer im Gaswerk zu bleiben. Allein die Werkstätten hier sind viel zu klein, um einen vernünftigen Spielbetrieb im Großen Haus leisten zu können. Das muss man nicht mehr diskutieren.Und gegenwärtig?
Im Großen Haus sind die Arbeiten im Moment am Laufen. Aber es ist zäh. Wir müssen uns nichts vormachen. Wenn wir tatsächlich noch so und so viele Jahre länger an die Interimsstätten gebunden sind, stößt der Betrieb irgendwann auch künstlerisch an seine Grenzen. Wir bauen Spielpläne. Irgendwann könnten die Möglichkeiten ausgehen.Viele Bürger*innen, aber auch die Mitarbeiter*innen an Ihrem Haus haben das Theaterbauprojekt mitgetragen und wesentlich dabei geholfen, es an den Start zu bringen. Werden Sie sich nicht vorgeführt vorkommen, wenn das Theater nun eventuell in einer anderen Version kommt?
Die Gefahr besteht. Man darf die Mühen nicht unterschätzen, die es kostet, hier eine künstlerische Gültigkeit herzustellen. Eine Gültigkeit und Qualität, die nicht nur mit der räumlichen Einschränkung definiert wird, sondern an sich. Und da haben wir viel erreicht. Wir haben eine super Akustik im martini-Park, das Orchester hat sich an den Raum gewöhnt. Die Sänger agieren sehr souverän. Auch das Schauspielensemble ist auf sehr gutem Weg, aber natürlich will man eine Perspektive schaffen, auch im Sinne des Staatstheaters.Die Stadt hat das Projekt »Geld für Gutes« aufgelegt, um aus der Bürger*innenschaft eine finanzielle Förderung für den Theaterbau einzuwerben. Es scheint aber, als komme kein rechter Zug in die Kampagne. Warum ist das so?
Ich glaube auch nicht, dass es im Moment flutwellenartige Bewegungen im finanziellen Bereich geben wird. Es ist ehrlich gesagt auch kein Wunder, wenn man bedenkt, wie die Entwicklung gelaufen ist. Pläne lagen auf dem Tisch, bevor die Diskussion mit den Bürger*innen geführt wurde. Dann hieß es, das Projekt sei ausfinanziert, was sich nun doch etwas anders darstellen könnte. Das ist keine ideale Situation, in der man zu potenziellen Mäzenen gehen könnte. Die Entwicklung gestaltet sich sehr zäh. Aber Augsburg ist eine über 2000 Jahre alte Stadt, da brauchen manche Dinge vielleicht einfach länger.
THEATER HEUTE, April 2018
André Bücker soll das Theater Augsburg durch die Sanierungsphase lotsen und dabei ein Stück weit neu erfinden
Beim Schlendern über das verschneite Niemandsland irgendwo zwischen Stadtautobahn und dem multikulturellen Kiez Oberhausen-Süd kann man selbst bei winterlichen Minusgraden ins Schwärmen geraten: So viel freier Platz für Kunst, davon können Städte dieser Größenordnung – Augsburg hat derzeit knapp 300.000 Einwohner – meist nur träumen.
Hier im Nordosten, zugegeben ein wenig ab vom Schuss, soll auf dem historischen Gaswerk-Gelände im ehemaligen Ofenhaus und einem angrenzenden Neubau die Interimsspielstätte für das Schauspiel mit gut 200 Zuschauerplätzen, Probenräumen, Werkstätten und Büros entstehen.
Intendant André Bücker, seit Herbst 2017 im Amt, freut sich schon auf sein neues Zwischendomizil, und bisher liegt auch die Logistik gut im Zeitplan. Im Unterschied zu seiner Vorgängerin Juliane Votteler, der das Große Haus im Stadtzentrum aus Brandschutzgründen bei laufendem Betrieb während ihrer letzten Spielzeit zugesperrt wurde, hat Bücker sich ganz bewusst für die Sanierungsphase beworben. In Dessau, wo der gebürtige Niedersachse von 2009 bis 2015 Generalintendant des Anhaltinischen Theaters war, ging es damals nicht um den Erhalt von Gebäuden, sondern des ganzen Theaters als Institution. «Dieser Existenzdruck hat unglaublich zusammengeschweißt», erinnert sich Bücker im Gespräch noch in den alten Räumen der Dramaturgie, die demnächst abgerissen werden. «Da war klar, wir müssen sowas von zusammenhalten, sonst sind wir alle weg. Es war eine tolle Zeit, wahnsinnig intensiv, auch künstlerisch haben wir da, glaub ich, sehr gute Sachen gemacht. Aber hier ist das eine andere Grundsituation. Hier kann man ruhiger arbeiten.»
Wer den Umzug eines Dreispartenhauses an zwei verschiedene, gänzlich neu zu erschließende Ausweichspielorte als ruhiges Arbeiten bezeichnet, hat sich damit an sich schon für diese Aufgabe empfohlen, die der Augsburger Kulturreferent Thomas Weitzel denn auch gerne in versierten Händen wissen wollte. «Ein ganz normales Haus zu übernehmen, in dem man einen ganz normalen Stadttheater-Repertoirebetrieb macht, das war für mich nach Dessau tatsächlich schwer vorstellbar», gibt Bücker zu. «Insofern hat es mich interessiert, ein Theater im Umbruch zu übernehmen.»
Dramaturgische Dramaturgie
Nachdem das im Jahr 2016 von einigen Kulturakteuren der Stadt angestrengte Bürgerbegehren gegen (!) die vom Freistaat mit über 50 Prozent (gut 100 Millionen Euro) bezuschusste Sanierung des Großen Hauses am Quorum scheiterte, wurden in einem großangelegten Beteiligungsverfahren zunächst einmal die Erwartungen der Bevölkerung abgefragt, die sich zu großen Teilen eine Öffnung des Theaters in die Stadt hinein und zu diverseren Zielgruppen wünschte. Ein Signal, das Bücker und sein Team natürlich gerne aufgreifen. «Es gibt z.B. über 40 Prozent Bewohner mit Migrationshintergrund hier, und darum hat sich das Theater bisher nicht gekümmert», beschreibt Bücker die Situation. «Diese Öffnung des Theaters zu betreiben und diese Hinwendung eben zu Themen, die hier relevant sind, das ist mir wichtig. Andererseits wollen wir natürlich in allen Sparten ein ganz hohes künstlerisches Niveau haben und auch verschiedene ästhetische Handschriften anbieten und diskutieren lassen.» Dazu hat Hausregisseurin Nicole Schneiderbauer mit ihrer Einstandsinszenierung von Thomas Köcks «paradies fluten. verirrte sinfonie» auf der Brechtbühne gleich zu Beginn einen starken Akzent gesetzt, indem sie mit einem gemischten Team aus Schauspielern und akrobatisch geschulten Performern und in der suggestiven und dabei ganz konkret bespielbaren Netzinstallation von Miriam Busch einen vielschichtigen Resonanzraum privater und globaler Zukunftsprojektionen schuf.
Auch in der Leitungsstruktur des Schauspiels sucht Bücker einen eigenen Weg: «Das war für mich schnell klar, dass ich nicht mit einem klassischen Schauspieldirektor arbeiten will, der wie in einer ästhetischen Monokultur vier oder fünf Inszenierungen pro Spielzeit macht, und der Rest wird drumrum drapiert.» Stattdessen gibt es nun neben ihm selbst ein vierköpfiges Team, bestehend aus zwei jungen Hausregisseuren, David Ortmann und Nicole Schneiderbauer, die auch vor Ort präsent sind, und den beiden Dramaturgen Sabeth Braun und Lutz Keßler. «Das hat sich glücklich getroffen», stellt Bücker fest, «es gibt eine Verlässlichkeit zwischen uns in der Aufgabenverteilung. Da schmeißt man sich mitunter die Dinge kurz zu, und das funktioniert.» Auch Keßler kann das bestätigen: «Wir diskutieren alles, Projekte und Spielplan, intensiv und lange und kommen so zu Entscheidungen, hinter denen wir alle stehen. Das klingt jetzt banal, aber hier kommt man als Dramaturg noch dazu, dramaturgisch zu arbeiten, und ich glaube, dass Theater nur so funktionieren kann. Wenn wir im Stoff stehen, merkt das auch das Publikum und das Ensemble, dass es sich darauf verlassen kann.»
Seine eigene künstlerische Handschrift hat der Intendant gleich zur Eröffnung der neuen Spielstätte im Textilviertel Martini-Park mit einem deftig-hemdsärmlig herausgespielten «Peer Gynt» präsentiert, in dem sechs alte und neue Ensemblemitglieder (Anatol Käbisch, Daniel Schmidt, Thomas Prazak, Sebastian Müller-Stahl, Kai Windhövel und Gerald Fiedler) die Hauptrolle im Stile einer multiplen Persönlichkeit mit durchaus performativem Körpereinsatz unter sich aufteilen. Eine kleine Blockhütte steht im Zentrum des schlichten, aber visuell effektvollen Bühnenbilds von Jan Steigert, das sich durch Frank Vetters opulente Videoprojektionen von norwegischen Landschaften schnell mal in einen reißenden Strom verwandeln kann. Mit offenen Hemden und hochgekrempelten Hosenbeinen (Kostüme: Suse Tobisch) stürzen sich die Peers anfangs gemeinsam, dann abwechselnd in ihre turbulente Sinn-Sucht (so auch das Spielzeit-Motto), begleitet von somnambul-swingenden Ibsen-Vertonungen der Augsburger Elektro-Pop-Band Misuk, deren Sängerin Eva Gold mit kühler Grandezza auch die Rollen der Ingrid und Anitra übernimmt. Für weibliche Erdung sorgen Ute Fiedler als Schmerzensmutter Aase, die im letzten Bild in der Rolle des Knopfgießers als elegante Madame la Mort ganz in Weiß wiederkehrt, und Karoline Stegemann als süß-stachlige Solveig, die ihre verpeilten Peers mit selbstbewusster Nachsicht wieder bei sich aufnimmt.
Ausgrabung Dieter Forte
Vom Stoff her auf die Stadt zugeschnitten, präsentiert sich sechs Wochen später wiederum auf der Brechtbühne die Ausgrabung von Dieter Fortes üppig recherchiertem dramatischen Erstling «Martin Luther & Thomas Münzer oder Die Einführung der Buchhaltung» aus dem Jahr 1970, der damals im Gefolge von 1968 prompt zum gefeierten und umstrittenen Welterfolg wurde: der große Reformator mal ganz anders als kleines Rädchen im Getriebe frühkapitalistischer Machenschaften und Spielball im großen Roulette um die Macht zwischen Fürsten, Kaisern und Päpsten, die im wilden Europa des 16. Jahrhunderts ihre Claims absteckten. In Augsburg fühlte man sich bei einer ersten Inszenierung Anfang der 70er Jahre doppelt brüskiert, weil Forte neben Luther auch den Lokalmatador Jakob Fugger als geldgierigen und skrupellosen Strippenzieher aufs Korn nahm.
Gut 40 Jahre später gibt es seitens der Augsburger in dieser Hinsicht keine Beschwerden mehr, dafür reges Interesse an der Neuinszenierung des in Vergessenheit geratenen Werks in einer von Lutz Keßler energisch auf knapp drei Stunden gestrafften Spielfassung, die im ersten Teil auf pralles Volkstheater und im zweiten auf die Reflexion der gesellschaftlichen Prozesse anhand einer Zitatcollage aus dem restlichen Textmaterial setzt. Um sich vom Korsett allzu großer historischer Genauigkeit zu befreien, lässt Regisseur Maik Priebe sein zehnköpfiges Ensemble mit großem Tumult und einem Thespiskarren als fahrende Gauklertruppe die Bühne stürmen und als Bodentuch eine zerknitterte Europakarte ausbreiten. Den Wagen hat Bühnenbildnerin Susanne Maier-Staufen zu einem nach allen Seiten auf- und ausklappbaren Wunderkasten ausgebaut, auf dem Kaiser, König, Edelmann schon mal wie auf einem Loveparade-Umzugswagen zu Techno-Beats grooven, während der Sozialrevolutionär Thomas Münzer Gerechtigkeit für die ausgebeuteten Bauern fordert.
Nach der Pause ist der grelle Mummenschanz vorbei, das Ensemble, jetzt in grauen Unisex-Strampelanzügen, versammelt sich auf rußschwarzen Holzkirchlein als Hocker im posttraumatischen Sitzkreis, um die unversöhnlichen und bis heute nachwirkenden Positionen noch einmal kontemplativ Revue passieren zu lassen.
Die Irrfahrt der St. Louis
Ein eindrucksvoller Fund ist der Dramaturgie insbesondere mit der deutschen Erstaufführung von Hanoch Levins «Das Kind träumt» auf Anregung und in der Übersetzung des Theaterwissenschaftlers Matthias Naumann und in der Regie von Antje Thoms gelungen. Es klingt wie ein Déjà-vu, kaum zu glauben jedenfalls, dass dieses Stück 25 Jahre alt ist. So genau – und doch anders als gewohnt, in einer kraftvoll prägnanten Kunstsprache – beschreibt es das, was heute (wieder) an den Rändern Europas stattfindet: das ganz alltägliche Elend von Vertreibung und Flucht. Hanoch Levin, geboren 1943 in Tel Aviv und seit den 1970ern bis zu seinem Tod im Jahr 1999 einer der prominentesten israelischen Dramatiker und Theatermacher, hat es 1993 verfasst, seinerseits im Rückblick auf die Irrfahrt des deutschen Passagierschiffs St. Louis, das im Jahr 1939 fast 1000 jüdische Emigranten in die USA bringen sollte und damals vor den Küsten Kubas und Floridas zurückgewiesen wurde, so dass ein Teil der beinahe schon Geretteten doch noch in deutschen KZs ermordet wurde.
Die Bühne ist ein riesiges Gemälde. Ein auf den ersten Blick abstraktes Bild, von gelb-, grün- und rötlichen Farbläufen wie von Adern durchzogen, die die knapp 100-Quadratmeter-Fläche als eine organische Struktur erscheinen lassen. Schaut man genauer hin, treten Figuren hervor, die sich auch im Text wiederfinden, Menschen und Gegenstände, ein Tierschädel, Soldaten mit Waffen, eine Mutter mit Kind, ein Rudernder in einem Boot. Die Malerin Andrea Huyoff hat das Werk eigens während der Proben geschaffen, Malgerüst und Leiter stehen noch an der Seite, ein Brett mit Farbtöpfen und Eimern in der Mitte davor. Rechts und links daneben lehnt zu Beginn eine Gruppe im Stil der 1930er gewandeter Gestalten (Bühne und Kostüme: Lea Dietrich), die direkt der Leinwand entstiegen scheinen, davor im Raum ein Tisch mit Malstiften wie in einem modernen Kindergarten.
Ein etwa neunjähriges Kind hüpft aus dem Publikum heraus quer über die Bühne, ein freundlicher Papa versucht, es wieder einzufangen, bis sich die beiden schließlich am Tisch mit den Stiften niederlassen, wo der Kleine entspannt die Augen schließt: Das Kind träumt, die intime Urszene des Vertrauens, die einen Moment später abrupt durch den Einbruch unvermittelter Gewalt beendet wird. Männer mit Waffen umzingeln das Familienidyll, doch der launische Kommandant (Andrej Kaminsky) scheint den Schlaf des Kindes zunächst zu respektieren, bis eine überschwänglich aufdringliche Person, laut Programmheft die «Zur Liebe geborene Frau» (Katharina Rehn), den Vater erschießt und dabei verwundert feststellt, «das geschieht wirklich!». Immer wieder springt Levins Text aus dem unmittelbaren Geschehen in eine verschiedene Realitäten verflechtende Betrachtung. Ein Sterbender beneidet das (noch) lebende Kind, das auf den Schultern tröstender Reisender sitzt, und später auf der Flucht fragt der verbitterte Schlepperkapitän die Frau, die von ihm gerettet werden will, wo sie denn war, als sein eigenes Kind starb.
Antje Thoms lässt solche Szenen manchmal mit einer clownesken Komik ausagieren, was die spröde Poesie der Sprache überlagert. Getragen wird der Abend jedoch von der tödlichen Symbiose zwischen Mutter und Kind. Natalie Hünig gelingt die unsentimental intensive Darstellung einer Frau, die anfangs noch unter dem Schock des Verlusts ihres Mannes und später durch den verzweifelten Überlebenskampf zur bitteren Erkenntnis gelangt, selbst nach dem Tod ihres Kindes allein weiterleben zu können. Zeki Ünlü als Kind begegnet seinem Schicksal dagegen lange Zeit mit stoisch unvoreingenommener Neugier und entscheidet sich, als ein selbstgefälliger Inselherrscher ihm allein, ohne die Mutter, Rettung anbietet, sehr souverän für den Tod. Ein existenzielles Tableau von verstörender Klarheit und dabei in der Lage, eine universale Dimension jenseits historischer Einzelereignisse zu öffnen.
Ego und Solidariät
Nach dieser Entdeckung mit überraschendem Brückenschlag in die Gegenwart durfte man sich von der Bearbeitung des selten gespielten «Fatzer-Fragments» zur Eröffnung des Brechtfestivals 2018 vielleicht nicht gleich ein Heimspiel, so doch auch einiges an anschlussfähigem Material erwarten. In der vor allem auf den Text fokussierten Regie von Christian von Treskow ist «Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer» mit seinen offenen Fragen nach der labilen Balance von Individuum und Kollektiv im (vor-)revolutionären Umfeld denn auch gut als einschlägiger Kommentar zum diesjährigen Festival-Motto «Egoismus versus Solidarität» zu lesen. Der Schriftzug «REVOLUTION» hängt in Oliver Kosteckas Bühnenraum buchstäblich und spiegelverkehrt in den Angeln: Die mannshohen Lettern lassen sich mal zu LOVE und mal zu OVER verdrehen und bieten dabei dem Chor samt den vier aus einem Panzer bei Verdun entlaufenen Deserteuren Deckung.
Fatzer und seine Kameraden Koch, Büsching und Kaumann haben sich aus dem Staub des I. Weltkriegs davongemacht und in Mülheim an der Ruhr bei Kaumanns Frau vorübergehend Unterschlupf gefunden. Einig sind sich die vier hauptsächlich in ihrer Kriegsverweigerung. Wie es weitergehen soll, weiß keiner so genau, wobei Fatzer (der in Kai Windhövels kraftvoll impulsiver Darstellung viel Ähnlichkeit mit seinem literarischen Bruder Baal hat) mit der Wartezeit schon eher etwas anfangen kann, und sei es, sich mit aus heutiger Sicht schwer erträglicher Macho-Selbstherrlichkeit um den «leeren Schoß» von Frau Kaumann (resolut-resigniert: Ute Fiedler) zu kümmern oder einen Privatclinch mit den Fleischern anzufangen, von deren Gunst die Verpflegung der illegal Untergetauchten abhängig ist.
Von Treskow lässt den ausweglosen Konflikt zwischen rechthaberischen Parteiideologen (im Schafspelz des freundlichen Intellektuellen: Klaus Müller als Koch) und dem rücksichtslos Ich-Süchtigen Fatzer erst etwas spröde und nicht ohne episches Pathos im Breitwandformat der Bühne austragen, zum Ende hin bis zur Liquidierung Fatzers durch die Kameraden jedoch immer greifbarer werden. Dann haben plötzlich, Joseph Beuys lässt grüßen, leibhaftige feldgraue Riesenhasen das Sagen, die schon vorher einige Male als Projektionen aus den Ecken lugten: Die flüchtig-surreale Vision einer beweglichen Anpassungskraft an das Prinzip Leben beschließt den, wo nicht bahnbrechenden, so doch Klarheit schaffenden Blick auf ein schwer zu fassendes Werk.
Gregor Gysi predigt von der Kanzel
Sorgen muss man sich um das Theater Augsburg nach dieser aufbruchsfreudigen ersten Halbzeit also keine machen. Der Zuschauerzuspruch hat sich im Vergleich zum Vorjahr sogar positiv entwickelt, und die neuen Spielstätten scheinen die Neugier des Publikums eher noch anzufachen. Trotzdem gibt sich André Bücker mit solchen Zwischenerfolgen noch lange nicht zufrieden. Dass man noch stärker in die Stadt hineinrufen möchte, dafür stehen Initiativen wie der Plan A, eine Plattform für interdisziplinäre und interkulturelle Theaterarbeit in Kooperation mit örtlichen Institutionen, Gruppen oder Vereinen.
«Wir müssen es schaffen», so Bücker, «dass es für die Akteure in der Stadt immer eine Option ist, mal beim Theater anzufragen. Und dann gibt es wie überall noch die Mehrheit der Nichttheatergänger, für mich immer auch eine wichtige Gruppe, weil wir ja nach wie vor glauben, dass wir etwas zu erzählen haben, was auch für diejenigen interessant ist, die bisher gar keine Ahnung haben, dass Theater ihnen was erzählen könnte. Da sind wir dabei, Strategien zu entwickeln, denen zumindest mal die Tür aufzumachen.» So zum Beispiel mit einem Format, das Bücker aus seiner Dessauer Zeit importiert hat: Jeweils am Sonntag nach einer Premiere hält ein Special Guest in einer der beiden Hauptkirchen der Stadt eine Theaterpredigt zum Thema des Stücks. Über Brechts «Fatzer» sprach zuletzt Gregor Gysi von der Kanzel der evangelischen St.-Anna-Kirche – wenn sich da keine neuen Synergieeffekte auftun!
Lust auf Kommunikation
André Bücker ist der neue Intendant im Theater Augsburg. Mit einer Inszenierung von "Peer Gynt" stellt er sich dem Publikum vor
Von Christiane Lutz, Augsburg
Wenn einer zwölf Jahre lang in Dessau am Theater gearbeitet hat, ist er es gewohnt, auf die Menschen zugehen zu müssen. Die Stadt in Sachsen-Anhalt leidet unter Abwanderung, die Jungen gehen, die Alten bleiben zurück. Sich als Intendant in den Elfenbeinturm der Kunst zurück zu ziehen ist da nicht, das weiß André Bücker. Also: raus auf die Straßen, mit den Menschen reden. Das Theater Dessau hatte gerade mal 400 Abonnenten. In Augsburg sind es knapp 6000. Dort ist Bücker seit dieser Spielzeit Intendant und war doch erstaunt, wie anders Augsburg ist: "Das erste, was mir in Augsburg auffiel, war, wie viele Menschen hier auf der Straße unterwegs sind", sagt er, der vor einem Jahr mit seiner Familie hergezogen ist.
Bester Laune sitzt André Bücker, 48, legerer Pulli, in seinem riesigen Intendantenbüro im Theater Augsburg. Dass das Haus noch ein paar Jahre grundsaniert wird, wusste er natürlich, als er sich auf den Job als Nachfolger von Juliane Votteler bewarb. Es stört ihn nicht, dass ihm praktisch Stein um Stein das Haus unter dem Hintern weggebaut wird. Ganz zu schweigen von der Schwierigkeit eines Interims-Spielbetriebs, wie ihn das Theater nun lebt. "Genau das hat mich ja interessiert", sagt er. Dazu kommt die Ankündigung der Stadt, das Theater neu ausrichten zu wollen. Beim Projekt "Theater der Zukunft" sollen die Bürger einbezogen werden, die Institutionen. Die Stadt möchte, dass sich das Theater öffnet, sich anderen Themen und Inhalten zuwendet, mehr Teilhabe möglich macht. Das sind ganz schön anspruchsvolle Ansagen, Bücker jedoch scheint niemand, der sich aus der Ruhe bringen lässt. Überhaupt ist er eher der Typ entspannter Vater als vergeistigter Bücherstreichler und Werktreuekämpfer. Sein Blick auf das Theater und die Gesellschaft ist der eines Arbeiters, der Leistung bringen und die Menschen in ihrer Sprache ansprechen muss. Verwöhnt von zu vollen Häusern und Kassen war er nie.
Das sieht man auch an seinen Twitter- und Instagram-Accounts, die er als einer der wenigen Intendanten großer Häuser selbst bespielt und wo er sich sehr nahbar gibt. Zwischen Probenfotos zu seiner Premiere "Peer Gynt" taucht da schon mal ein Bild von ihm beim Fußballspielen und von seinem Sohn an seinem ersten Schultag auf. Er ist greifbar. Etwas, das er auch in Dessau gelernt hat, was ihm als Mensch aber auch einfach entspricht. "Den Twitter-Account habe ich mir zugelegt, als in Dessau Kürzungen bei den Geldern angedroht wurden", sagt er. Online wollte er seinem Unmut Luft machen. Er ist dabei geblieben, "Theater ist nun mal ein kommunikativer Akt", sagt er.
1969 wird André Bücker in Osnarbrück geboren, dort wächst er auch auf, studiert in Bochum und arbeitet seit 1995 als Regisseur. Von 2005 bis 2008 war er Intendant des Nordharzer Städtebundtheaters Halberstadt/Quedlinburg, dann zog er nach Dessau. Bücker inszeniert immer schon Oper und Schauspiel - eine Leidenschaft, die er auch in Augsburg beibehalten will. Pro Spielzeit ein Schauspiel und eine Oper. Im Februar ist die Oper dran, Verdis "Die Macht des Schicksals". Zum Start in die neue Saison hat er sich als Schauspiel einen Klassiker der Theatergeschichte ausgesucht. Warum Peer Gynt? "Unser Spielzeitmotto ist ja Sinnsucht, das fiel mir irgendwann ein, ich fand das ganz hübsch. Außerdem reizen mich die großen Weltdramen. Peer Gynt ist ja, wie Faust, einer der großen Sinnsuchenden und Sinnsüchtigen der Literatur."
Seine berufliche Sinnsucht geht dahin, dass er mit seiner Arbeit Menschen erreichen möchte, die sonst nicht ins Theater gehen, "dafür lohnt es sich doch, zu arbeiten." Natürlich ist ihm klar, dass es das große Dilemma des Theaters ist, jene Menschen eben nicht zu erreichen und sich nurmehr mit Gleichgesinnten zu umgeben. "Aber es ist etwas, für das es sich zu arbeiten lohnt. Man muss ja nicht alle Widersprüche auflösen, die ästhetischen sowieso nicht, aber auch nicht die politischen." In Sachsen-Anhalt lag die AfD bei der Bundestagswahl bei knapp 25 Prozent, Bücker weiß also, wovon er spricht, wenn er von "politischen Widersprüchen" redet.
Mit Frank Vetter, seinem Videokünstler-Kollegen, reiste er vergangenes Jahr kurzerhand nach Norwegen, in eine Hütte ins Nirgendwo. Sie wollten Bilder machen und natürlich, wenn man schon mal da ist, auch versuchen, etwas vom Mythos des Ibsen-Stückes zu spüren. Hat geklappt. "Der Text hat solch eine irre poetische Kraft, das spürt man auch, wenn man dann in diesen Landschaften ist, die teilweise wie auf dem Mond aussehen."Seine Inszenierung, die im Martini Park stattfindet, wird sich nun auf einigen Videoebenen abspielen, Dreh- und Angelpunkt der Bühne ist Peers Häuschen. Die große Welt im Kleinen, sozusagen. Sechs Schauspieler spielen Peer, die Band Misuk hat eigens für diese Produktion Textpassagen aus dem Stück vertont und spielt diese live. Bücker arbeitete mit verschiedenen Textfassungen, die Grundlage aber bildet die Übersetzung von Christian Morgenstern. Die Proben konnten auf der großen Bühne des Haupthauses stattfinden, ein Luxus, den Bücker der Sanierung zu verdanken hat, denn Zuschauer dürfen schon eine Weile nicht mehr ins Theater. Am Samstagabend dann im Martini Park wird Bücker den Zuschauern zeigen, wer er ist und was für ein Theater er will. Es dürfte spannend werden.
Theater Augsburg
André Bücker wird neuer IntendantDie Stadt Augsburg hat sich entschieden: Von 2017 an soll André Bücker das Theater der Stadt als Intendant leiten. Zuletzt war der 46-Jährige fünf Jahre lang Generalintendant des Anhaltischen Theaters in Dessau. Von Stefan Mayr Auf diesen Mann dürfen sich die Augsburger freuen - jedenfalls jene unter ihnen, die Lust auf frisches und freches, unbequemes und unbekümmertes Theater haben. André Bücker wird im Jahre 2017 neuer Intendant des Augsburger Theaters. Das hat die Findungskommission der Stadt beschlossen. Das Ergebnis wurde am Dienstag in nichtöffentlicher Sitzung dem Stadtrat mitgeteilt.
Bücker ist 46 Jahre alt und war zuletzt fünf Jahre lang Generalintendant des Anhaltischen Theaters in Dessau. Seine letzte Inszenierung ist der “Götz von Berlichingen” - und das kann man als wenig verklausulierte Abschieds-Botschaft an die Kulturpolitiker in Sachsen-Anhalt verstehen. “Die Art, wie die Kultusminister in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt offen Front machen gegen die Stadttheater, markiert eine neue Qualität”, sagte Bücker im Sommer dem Nachrichtenmagazin Spiegel.
Bückers Kampf gegen die Sparwut Bücker ist ein politischer Mensch mit Rückgrat, vor seinem Abgang hatte er sich mit Kultusminister Stephan Dorgerloh (SPD) angelegt. Der Politiker hatte den Zuschuss für das Theater von 8,1 Millionen auf 5,3 Millionen Euro gesenkt und den Dessauern empfohlen, künftig auf die Sparten Schauspiel und Ballett zu verzichten. Das machte Bücker aber nicht mit. Er brachte den Stadtrat hinter sich und organisierte einen zehnprozentigen Lohnverzicht des kompletten Ensembles. Damit rettete er die vier Sparten seines Hauses.
Seinen Kampf gegen die Sparwut der Landespolitiker führte er auch auf virtuellem Feld: 2013 twitterte er das Landeswappen mit dem Slogan “Sachsen-Anhalt. Wir sparen uns früher dumm”. Dem Innenministerium in Magdeburg gefiel das nicht, es forderte von Bücker eine Art Unterlassungserklärung. Bücker verteidigte sich mit dem Argument, das sei “ganz eindeutig Satire”.
Theater in den Morgenstunden Auch künstlerisch kann Bücker sperrige Großprojekte wuppen: Unter seiner Ägide wurde der gesamte Zyklus Wagners “Der Ring des Nibelungen” aufgeführt. Das hatte es in Dessau, dem sogenannten “Bayreuth des Ostens”, seit 50 Jahren nicht mehr gegeben. Bücker steigerte in seiner Amtszeit die Platzauslastung auf mehr als 80 Prozent. Er lud um fünf Uhr morgens zum Zaubertheater. Er inszenierte auch in Jugendtreffs, Diskotheken und Bibliotheken.
Dies werden in Augsburg jene Kulturschaffende gerne hören, die zuletzt gegen die 186-Millionen-Euro teure Sanierung des Augsburger Theaters aufbegehrten. Sie forderten Mitspracherecht und drohten mit einem Bürgerbegehren. Die Politik lenkte ein, derzeit läuft ein Dialog-Prozess, bei dem sich alle Einwohner der Stadt beteiligen können.
Bei den ersten Workshops wurde immer wieder eine Forderung laut: Das Theater müsse sich für jüngeres und neues Publikum öffnen - und auch auf die freie Theater-Szene der Stadt zugehen.
In Bayern kein Unbekannter André Bücker scheint offen für solche Projekte. Andernfalls hätte er sich nicht auf die Stelle in der Fuggerstadt beworben: Das marode Große Haus muss 2017 aus Sicherheitsgründen geschlossen werden, Bücker und sein Ensemble werden während der Sanierung in Ausweichspielstätten improvisieren müssen.
In Bayern ist Bücker kein Unbekannter. Er ist Dozent an der Ludwig-Maximilians-Universität München (Fakultät für Theaterwissenschaft/Weiterbildung Theater- und Musikmanagement). Augsburgs Stadträte haben den Vertrag mit der aktuellen Intendantin Juliane Votteler nicht verlängert. Er läuft im Sommer 2017 nach zehn Jahren aus. Votteler galt als Kämpferin für ihr Haus und ihr Ensemble, die auch laut und unbequem werden konnte.
André Bücker steht ihr in dieser Hinsicht in nichts nach: Zur Premiere des Götz von Berlichingen hing ein großes Banner mit einer geballten Faust an der Theaterfassade. Diese Faust trug Bücker auch auf der Brust herum - auf einem T-Shirt. Dessaus Oberbürgermeister Peter Kuras (FDP) hatte Bückers Intendantenstelle zum 1. August 2015 ausgeschrieben - nicht ohne ihm noch mitzugeben, dass er dem Land “nicht vermittelbar” sei.
Allen Augsburgern, die sich angesichts der Streitlust Bückers jetzt schon Sorgen machen um ihre gute Kulturstube, sei beruhigend gesagt: Goethes “Götz” war wohl schon geplant, als Bückers Abgang noch gar nicht feststand.
Dessauer auf Zeit: André Bücker geht 2017 nach Augsburg.
Regisseur André Bücker wird Intendant in Augsburg. Sein ehemaliger Verwaltungschef zieht mit. Damit hat Halle ein Problem. Auch ein Übergangs-Geschäftsführer wäre denkbar. Druckenper Mail HALLE (SAALE). Ab nach Bayern! Oder: Schwaben? Letzteres. Augsburg ist die größte Stadt im Regierungsbezirk Bayrisch Schwaben. Dorthin wechselt André Bücker im übernächsten Jahr. Vom Beginn der Spielzeit 2017/18 an wird der Regisseur, dessen Vertrag als Generalintendant des Anhaltischen Theaters nach sechs Jahren nicht verlängert wurde, als Chef ans Augsburger Theater ziehen. Am Dienstagabend setzte eine Findungskommission in nichtöffentlicher Sitzung den Stadtrat von Augsburg über die Wahl in Kenntnis. Im Dezember, wenn die Vertragsverhandlungen erfolgt sind, muss die offizielle Wahl erfolgen.
Aber die sei nur noch ein formaler Akt, sagt André Bücker, der bester Dinge ist. „Ich freue mich sehr darauf“, sagt der 46-Jährige, der gerade in Göttingen Goethes „Werther“ auf die Bühne brachte. Wie in Dessau will der gebürtige Niedersachse für eine „Öffnung des Theaters zur Stadt hin“ sorgen. Die „Stadt insgesamt“ will er bespielen. „Mit neuen Ästhetiken.“
Größer und wohlhabender als Halle
Der Ort ist interessant. Weil man Augsburg vom Osten aus nicht sofort im Blick hat: Die Stadt ist mit 281.000 Einwohnern größer und wohlhabender als Halle, die vormaligen Städtischen Bühnen Augsburg sind ein Dreispartentheater (Oper, Schauspiel, Ballett), dessen Hauptbau, das Große Haus, zur Zeit für 186 Millionen Euro saniert wird. Eine von Sachsen-Anhalt aus gesehen gigantische Summe. In Dessau würde man dafür sieben Bauhaus-Museen errichten.
Aber die Stadt hat auch Geschichte. Sie ist mehr als Puppenkiste und die Heimat von Roy Black. Der Augsburger Religionsfrieden brachte 1555 die Koexistenz von Protestanten und Katholiken. Bertolt Brecht wurde dort geboren, woran jährlich ein Brecht-Fest erinnert. Von Weill zu Brecht, von Luther zum Religionsfrieden ist es jeweils ein kleiner Schritt. „Ja, es ist total überraschend“, sagt Bücker, wie sehr Dessau und Augsburg kulturhistorisch miteinander korrespondieren. Sogar Spuren von Flugzeugbau hat der Bewohner der Junkers-Stadt in seiner neuen Arbeits-Heimat entdeckt. Anfangs wird er pendeln, aber dann doch sehr wahrscheinlich seinen Hauptwohnsitz von Dessau weg nach Augsburg verlegen.
Intendant André Bücker: Ab nach Schwaben! | Kultur - Mitteldeutsche Zeitung - mehr
André Bücker wird mit nahezu hundertprozentiger Sicherheit neuer Intendant des Theaters Augsburg. Zu klären sind nur noch Details.
Andre Bücker soll neuer Intendant des Augsburger Theaters werden.
Von Rüdiger Heinze
Er besitzt erkleckliche Intendanten-Erfahrung, er ist streitbar, er engagiert sich gesellschaftspolitisch über das Theater hinaus: Der 1969 nahe Osnabrück geborene André Bücker, der als ehemaliger Generalintendant des Anhaltischen Theaters Dessau mit nahezu hunderprozentiger Sicherheit 2017 die Leitung der größten Bühne Schwabens übernimmt, die Intendanz des Theaters Augsburg. Auszuhandeln sind mit Bücker noch Details des Vertrags – und auch mit dem künftigen kaufmännischen Direktor Friedrich Meyer. Bücker und Meyer waren unter 69 Bewerbungen eines der beiden „Tandems“, die sich für die Führungsspitze beworben hatten. Am Dienstagabend stellte sich der Augsburger Stadtrat unerwartet schnell hinter das Duo – und zwar ebenso einstimmig wie zuvor die Findungskommission.Das Duo Bücker und Meyer ist ein eingespieltes Team
Das deutet darauf hin, dass André Bücker plus Friedrich Meyer als maßgeschneidert für Augsburg angesehen werden. Die Gründe dürften sein: Zum Einen ist das Duo ein eingespieltes Team mit Leitungserfahrung aus einem vergleichbar großem Theater von rund 1000 Plätzen und rund 350 Mitarbeitern. Bis 2014 war auch der Dessauer Etat von gut 20 Millionen Euro nicht weit vom Augsburger Etat entfernt. Zum Zweiten aber, und das entspricht in hohem Maß aktuellen kulturpolitischen Vorstellungen nicht nur am Lech: André Bücker steht für eine Auffassung von Theaterarbeit, die aus dem zentralen Großen Haus auch hinausgeht in die Stadt und deren Potenziale hinsichtlich Geschichte, weiterer Aufführungspodien und zusätzlichem Kulturangebot nutzt.
Bücker im Gespräch mit unserer Zeitung: „Ich möchte neue Räume erschließen. Meine Vita enthält Theater in der Disco, im Steinbruch, in der Kirche. Ich möchte mit anderen Einrichtungen kooperieren, mit Musikschulen, Laienchören, Stadtteileinrichtungen. So soll ein offenes Theater entstehen, in dem ich mich als Kommunikator betrachte.“ Und auf die Frage, worin er, Bücker, den Grund für die einhellige Zustimmung für ihn und Meyer sehe, sagt er: „Ich glaube, wir konnten vermitteln, dass wir uns mit Ernst, Kraft, Energie und Verantwortung ins kulturelle Leben Augsburg einbringen werden.“
Verstärkt also wird in Augsburg ab 2017 das stattfinden, was die amtierende Intendantin Juliane Votteler bereits in die Wege geleitet hat: Theaterthemen mit lokalem/regionalem (historischem) Bezug, Auftritte in anderen städtischen Institutionen, Zusammenarbeit und vernetzung mit weiteren Kulturträgern. Ein Beispiel nur für den gesellschaftspolitischen Einsatz Bückers: In Dessau setzte er ein Theaterprojekt an, das den tatsächlichen Fall eines ungeklärten Toden von einem schwarzen Asylanten in einer Polizeizelle beleuchtete.
Bücker wird im Gegensatz zu Votteler selbst inszenieren
Theater solcher Art wird ja künftig in Augsburg nicht nur aus kulturpolitischer Überzeugung geschehen, sondern ebenso aus der Notwendigkeit heraus: Schon heute ist abzusehen, dass André Bücker auch als Sanierungsintendant in die städtischen Annalen eingehen wird. Das Große Haus und die Verwaltungsgebäude sind bekantlich grundlegend zu überholen – mit den natürlichen Folgen von Dutzenden von Aufführungsauslagerungen. Auch dazu hat sich Bücker eigener Aussage nach Gedanken für seine Bewerbung gemacht – die zu veröffentlichen er aber als zu früh betrachtet.
Im Gegensatz zu Intendantin Votteler wird Bücker selbst inszenieren. Ein Schauspiel und eine Oper pro Spielzeit hat er sich vorgenommen. Spricht man ihn diesbezüglich auf Schwerpunkte seines derzeitigen Interesses an, so bekundet er: Richard Wagner und die Dramen-Klassiker. Goethe und Shakespeare hat Bücker als bundesweite „Hausgötter“ unter rund 70 Eigeninszenierungen mehrfach auf die Bühne gebracht; hoch gelobt wurde zuletzt sein Dessauer „Ring der Nibelungen“ in Bauhaus-Ästethik.
Dessau: die Stadt hat heute nur noch 80 000 Einwohner, doch die Besucherzahlen im Viersparten-Theater mit Puppenbühne liegen bei 170 000 bis 180 000 pro Spielzeit – eine sensationelle Relation. Ja, Dessau sei eine „theaterverrückte“ Stadt, sagt Bücker, und hinzu kämen Besucher aus Berlin und Leipzig. Das Engagement der Bürger für das Theater sei hoch – und war am höchsten, als die Landesregierung von Sachsen-Anhalt 2013 eine kurzfristige Drei-Millionen-Kürzung allein für Dessau diktierte. Dass sich Bücker daraufhin in die Spitze einer landesweiten Protestbewegung einreihte, kostete ihn allgemeiner Einschätzung nach den Intendanten-Posten in Dessau. Die Situation aber an seinem künftigen Wirkungsort Augsburg sieht er folgendermaßen: „Fantastisch, dass Bayern und Augsburg so massiv in das Theater und die Theaterstrukturen investieren.“ Augenzwinkernd gibt er zu verstehen: „Sitzplatzüberbuchung ist mein Ziel.“
André Bücker hat in Bochum Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften sowie Geschichte und Philosophie studiert; nach Jahren als freier Regisseur und Dramaturg war er zwischen 2005 und 2008 Intendant des Nordharzer Städtebundtheaters. 2009 wechselte er zum Theater Dessau. Bücker lebt mit einer ehemaligen Tänzerin zusammen, die beiden haben einen vierjährigen Sohn. Geplanter Umzugstermin: Sommer 2016, ein Jahr vor der Stabübergabe durch Votteler. Zu diesem Zeitpunkt soll allerdings schon Friedrich Meyer seine Tätigkeit als kaufmännischer Direktor antreten.
Mit der Aufführung des "Rings" von Richard Wagner verabschiedete sich André Bücker als Regisseur und Intendant vom Anhaltischen Theater in Dessau. MDR-FIGARO-Theaterredakteur Stefan Petraschewsky mit einem Blick auf Bückers Zeit in Dessau.
von Stefan PetraschewskyAndré Bücker – und das wird bleiben und wohl auch fehlen – inszenierte nicht nur im Theater, sondern ging mit seinem Theater auf die Straße; setzte die Mittel des Theaters ein für eine öffentliche Auseinandersetzung mit den Fragen der Zeit.
Rechtextreme Gewalt gegen SchauspielerIch erinnere mich an das Jahr 2007. Es war damals auch Ende Juni – ist also genau acht Jahre her: Damals war André Bücker noch Intendant am Nordharzer Städtebundtheater in Halberstadt und Quedlinburg, als bei einer Premierenfeier fünf Schauspieler heftig verprügelt worden waren – angeblich hatte einer eine Punkerfrisur – vielleicht hatte er sich auch nach der "Rocky Horror Picture Show" noch nicht abgeschminkt. Die Schläger kamen aus der rechtsextremen Szene, ein einziger Täter wurde ermittelt, offenbar haben andere weg- und nicht genug hingeschaut – auf jeden Fall auch zugeschaut. Ein Muster, das wir inzwischen zur Genüge kennen hierzulande.
Theatrale Intervention im öffentlichen Raum
Bücker hatte damals reagiert. Mit einer, wie es im Fachjargon heißt, theatralen Intervention im öffentlichen Raum. Das Projekt hieß: "Auf die Plätze! Die Stadt gehört den Demokraten! Eine Eroberung des öffentlichen Raumes durch Kunst und Kultur". Diese "theatrale Intervention" – anders gesagt, dieses Straßentheater der politischen Art, war für die Harz-Region ein gutes Zeichen.
Ich erinnere mich auch an das Jahr 2011. Es war wieder Anfang Juni, und Bücker inzwischen Generalintendant am Anhaltischen Theater in Dessau, als es wieder mit dem Theater in die Stadt ging. "Schwarzweiß" hieß das Projekt diesmal, mit dem das Theater versuchen wollte, etwas mehr Grautöne und differenziertes Denken in die Öffentlichkeit zu tragen. Es ging um den Asylbewerber Oury Jalloh, der 2005 in einer Zelle des Dessauer Polizeireviers zu Tode kam; und es ging damit auch um die Themen Heimat, Identität, Rassismus, Humanität, Integration und Gewalt. Ich zitiere aus dem Programmheft von damals: "Das Theaterprojekt sucht nach den unterschiedlichen Stimmen innerhalb der Dessauer Stadtgesellschaft, um ein Panorama der Meinungen und Deutungen zu entwerfen". Also Stimmensammler am Werk. Keine Vorverurteilung. Kein Agitationsversuch, was ja einem Theater gerne unterstellt wird. Einmischen durch Aufklären. Es war für mich ein starkes Theatererlebnis
Mit Posaunen und Trompeten gegen Finanzkürzungen
Und ich erinnere mich auch an das Jahr 2013. Es war Herbst und das Anhaltische Theater war diesmal in eigener Sache unterwegs. Ein Protestzug um den Landtag in Magdeburg herum; mit Posaunen und Trompeten gegen die einschneidende Kürzung der Landesmittel für den Theaterbetrieb. Aber war das wirklich "in eigener Sache"? – Oder war es doch eine öffentliche Sache, die hier beschnitten werden sollte. Theater ist ja auch immer eine kulturelle Infrastruktur, mit der man ganz schnell eine Diskussionsrunde zusammenstellen kann, mit der man sich Geschichten erzählen kann, verschiedene Perspektiven vorstellen kann, mit der man sich auch schlagen kann ohne sich wehzutun.
Einmischtung durch Aufklärung wird weiter gebraucht
Am Ende gelang es durch Teilzeitarbeit, das Theater in Dessau als Vierspartenhaus zu retten. Das ist vor allem André Bücker zu danken. Und zu wünschen ist, dass das Anhaltische Theater als ein Ort der "theatralen Intervention im öffentlichen Raum" fortgeführt wird. Einmischen durch Aufklärung. Auch das ist André Bücker zu danken. Ein Bundesland darf sich heute glücklich schätzen, ein solches Theater zu besitzen – heute, wo – dramatisch gesprochen – in Meißen und Tröglitz Asylbewerberheime brennen.
Provinzbühne Dessau, Leipzig, Rostock: Warum es sich lohnt, um unsere Theater zu kämpfen. Eine Wutrede VON CLEMENS MEYER
Dessau, Sonntagnachmittag. Eine Handvoll Leute beobachtet auf dem Theatervorplatz die Vorbereitungen zum Götz von Berlichingen, der hier seit Monaten Furore macht. Dessaus Theater ist eins der schönsten im Land. Unweit des Bahnhofs gelegen, vor einem kleinen Park, in dem Bühnenarbeiter gerade eine Kanone in Stellung bringen; dann der großzügige, dennoch strenge Theatervorplatz, hier atmet alles Bauhaus ein und Bauhaus aus.
Flammen schlagen rußend aus eisernen Tonnen, vom Dach des Theaters ertönt eine Rede, „Freiheit, Freiheit“ höre ich immer wieder, während sich ein Orchester in Barockkostümen an der Treppe aufstellt; später kommt Juri Gagarin im DDR-Kosmonauten-Anzug und singt mit Gitarre vom Sputnik, von Sternen und vom Mond, auf dem er ja wohnt.
Ist das also die Provinz, denke ich, während ein Bus mit Delitzscher Nummer am Vorplatz hält, eine Rentnergruppe geht Richtung Theater, inzwischen donnert die berühmte Luxemburg-Rede übers Bauhaus-Idyll, die Tonnen blaken und rußen, die Kanone wird abgefeuert, „Freiheit ist immer auch die Freiheit des Andersdenkenden!“.Und später, während die Schauspieler die Gäste mit Handschlag begrüßen, tönt es: „Bis zum Äußersten gehen! Anarchie und Action!“ Ein großes Banner mit einer geballten Faust hängt an der Fassade, Chefdramaturg Andreas Hillger und Intendant André Bücker, der bei diesem Götz!-Spektakel („Ein deutsches Lied von der Freiheit“) Regie führt, tragen T-Shirts mit dem Logo, der Götz!-Faust.
Nun ist dieses deutsche Lied von der Freiheit wohl zu einem Abgesang geworden, in Dessau, in Rostock und anderswo. Kürzungen, Spartenstreichungen, Bürgermeister, die den Über-Intendanten spielen; Provinzen, in deren Verfall sich die Kunst, das Theater, gegen die Horden der Zombies stemmt: NPD, NSU, Hartz IV, Pegidahinterland, vorrückende Chrystalgrenze ... nicht Götz hat mehr die EISERNE HAND, die EISERNE HAND greift und kappt und verknappt, dass es eine wahre Freude ist. Dessau, Volksbühne Berlin, Volkstheater Rostock, Theater Nordhausen, Schauspiel Leipzig ... wo ist sie denn, die sogenannte Provinz?
Kürzlich sah ich an der Volksbühne das große Stück Kaputt von Castorf. Fast leer das Haus. Obwohl doch in dieser dunklen Reise durch die Kriege so viele unserer Fragen wenn nicht beantwortet, so doch gestellt werden. Zu radikal? Zu schmerzhaft? Oder muss Kunst spalten, wehtun, auch mal Zuschauer vertreiben, Seh- und Konsumgewohnheiten radikal hinterfragen?
Sie muss!, denke ich, als in Dessau im zweiten Teil dieses grandiosen Provinz!-Götz! genau das passiert. Zu Beginn des ersten Teils wurde noch rhythmisch mitgeklatscht, als der Opernchor des Landestheaters Volkslieder und Popsongs teils von der fürs Publikum gesperrten Empore, teils direkt im Saal intonierte. Die Türen waren übrigens alle durchgehend geöffnet, natürlich fürs Ensemble, das wie in einem Reigen rein- und rauseilte, aber auch, noch viel simpler, sollte das heißen: Öffnet euch, Freunde! (Mit dem Ausrufungszeichen werde ich hier noch öfter arbeiten, ich habe es direkt dem Programmhefttitel entlehnt: GÖTZ!) OPEN THE FUCKING DOORS, OPEN YOUR FUCKIN’ MIND! Machet die Türen hoch und die Tore weit, auf dass einmarschiere ein widerspenstiger Geist des Theaters!
Und während im zweiten Teil die Apokalypse der Bauernkriege auf der Bühne wütet, Heiner Müller und Büchners Danton und Gudrun Ensslin und Nostradamus und Camus und Hölderlin in den Goethe-Götz eingeflochten, nein ge-cut-up-ed werden, glaube ich zu erkennen, dass man dieses sogenannte Provinz-Publikum (mal abgesehen davon, dass Dessau natürlich immer auch WELT! war) gehörig unterschätzt. Warum inszeniert Castorf nicht mal wieder auf dieser großen, einmaligen Bühne und schließt den Kreis nach Anklam, Zeit hat er ja bald ... die Türen müssen doch offen sein, und selbst die Rentnergruppen aus Delitzsch applaudieren am Ende stehend.
Aber selbst in Dessau ist es ja nicht klar, wie es weitergeht. Intendant Bücker war eben kein Bücker und hört nun auf. Er sei schwer vermittelbar beim Land, habe er gehört – vom Dessauer OBM (OrtsBegehung mit Managern). Ich weiß nicht, ob das derselbe ist, der vor einigen Jahren sich mal furchtbar über ein Theaterprojekt echauffierte, das die Verwicklung der Alt-Dessauer Industriefürsten in die NS-Massenvernichtung thematisierte.
Orts-Begehung-mit-Managern-Wahnsinn auch in Rostock. Latchinian raus, Latchinian rein ... alle Türen auf und wieder zu, nur die im Theater und die zu den Fördermitteln bleiben erst mal DICHT. Ja seid ihr denn alle nicht ganz dicht? Schmeißt das Geld doch gleich der NPD hin in McPomm, begreift denn dieser Mann im Rathaus nicht, dass man sich am Ende selbst beschneidet, wenn man die Kunst beschneidet.
„Steh auf, wenn du am Boden bist“, sang der Chor in Dessau nach einer der dunklen Götz-Metzeleien, „Steh auf, steeeeh auf!“. Und nicht nur die Zombies des Krieges erhoben sich schwankend, auch einige der Zuschauer sprangen auf und sangen mit.
Mensch, dachte ich, das sind so kleine Momente, in denen man denkt, dass doch noch alles in Ordnung ist. Ich wünsche mir, dass in Dessau in Zukunft wieder ähnlich reingehämmert wird wie im GÖTZ! Dass in Rostock Latchinian endlich machen und loslegen kann; dass im Schauspiel Leipzig mit oder am besten ohne Intendant Lübbe wieder der Mut einkehrt und der Neu-Biedermeier endlich durch die sich öffnenden Türen geweht wird; dass die Zuschauer offen sind und schmerzbereit und nicht festgefahren; dass Heiner Müller in allen Provinzen erklingt, dass wir Frage- und Ausrufezeichen auf die Bühnen und von den Bühnen schleudern, Donnerkeile; dass wir die alten Meister mit den neuen Stimmen mischen, dass wir in die Provinzen ziehen, das wir den OBM (Mehrzahl, you know) Feuer unterm Arsch machen, dass unsere Theater Visionen haben, dass, wo Zeiten des Aufruhrs dran steht, auch ein bisschen Aufruhr drin ist, dass wir auch die leisen Töne der sogenannten Bilderstürmer hören wollen ...
Und dass in Dessau, Nordhausen, Senftenberg wieder die Talentschmieden glühen und Funken sprühen, weil man den Leuten dort mehr zumuten kann, als man denkt, und weil’s da sonst ja auch nicht allzu viel gibt. In diesem Sinne: Venceremos!, oder wie der alte Götz bei Goethe sagt: „Mich ergeben? ... sag’s ihm, er kann mich im Arsch lecken.“
Der scheidende Generalintendant André Bücker trat im Konflikt um die Finanzierung der Theater in Sachsen-Anhalt stets streitbar auf. Nun verabschiedet er sich mit einer ebenfalls streitbaren Figur.
"Der Götz ist eine Heldenfigur, die aufgrund ihrer Haltung und ihres Widerstands Eindruck macht." Auch André Bücker, der scheidende Generalintendant des Anhaltischen Theaters Dessau, der die Figur des Götz von Berlichingen so beschreibt, hat sich durch Widerstand einen Namen gemacht.
Er war einer von denen, welche die Sparpolitik des Landes Sachsen-Anhalt bei den Theatern heftig kritisierte, eine Haltung, die letztlich darin mündete, dass er seinen Vertrag verlor. "Aber als Götz will ich mich hier wirklich nicht inszenieren", unterstreicht er.
Nun bringt Bücker zum Abschied vom Anhaltischen Theater diesen Götz auf die Bühne, eine Figur, für die er "große Sympathien aufbringt, weil sie eine Haltung hat". Dabei verwendet er weitgehend die Fassung des Schauspiels von Johann Wolfgang von Goethe aus dem Jahr 1773.
Aber er ergänzt den Text unter anderem durch Beiträge von Bertolt Brecht, von Rosa Luxemburg und der russischen Frauen-Punk-Gruppe Pussy Riot. "Ein deutsches Lied von Freiheit" hat Bücker seine Inszenierung untertitelt und auch Musik aus Western, von den Toten Hosen und Rammstein aufgenommen.
Über dem Eingang des Theaters wehen die Landesfarben Sachsen-Anhalts neben der Regenbogenfahne, die für die Friedensbewegung steht. Hat er seinen Frieden mit dem Land gemacht? Bücker lacht. "Das hat mit meinem Frieden mit diesem Land nichts zu tun."
Ein Sammelsurium von Kostümen
Aber es wecke natürlich Assoziationen, wenn das Haus so eindeutig beflaggt sei. Dies hänge aber eher damit zusammen, dass das Gebäude des Anhaltischen Theaters schon wiederholt in die Inszenierungen von Stücken eingebaut worden sei. So wurde es mit Stricken am Boden befestigt, um die Verankerung des Hauses in der Gesellschaft zu zeigen.
Bücker hat den "Götz" in einen Zusammenhang mit dem Film "Django Unchained" von US-Regisseur Quentin Tarantino gestellt, worauf schon das an Tarantino angelehnte Plakat zum Stück verweist.
Auf der Bühne sieht der Zuschauer ein Sammelsurium von Kostümen, die durch zahlreiche Geschichtsepochen begleiten. "Theater soll Reizpunkte setzen, Theater muss ein widerständiger Ort sein", beschreibt Bücker sein Selbstverständnis. "Theater, das nur gediegene Unterhaltung bietet, braucht man eigentlich nicht."
Bückers Vertrag in Dessau-Roßlau endet mit der Spielzeit im Juli. Wo es ihn dann hinzieht, weiß er noch nicht. Ende des Jahres übernimmt er zunächst in Koblenz die Regiearbeit zu "Eine Familie", die deutsche Adaption des preisgekrönten Theaterstücks "August: Osage Country" des US-amerikanischen Dramatikers Tracy Letts. Weitere Zukunftspläne hat der Künstler noch nicht geschmiedet.
Göttlich: Tänzer und Orchester des Anhaltischen Theaters präsentieren „Das verlorene Paradies“.
VON JOACHIM LANGE
Diesmal fällt es direkt schwer, beim Hauptbeitrag des Anhaltischen Theaters für das laufende Kurt-Weill-Fest keinen doppelten Boden zu vermuten. Der Dessauer Ballettchef Tomasz Kajdanksi hat nämlich gemeinsam mit der Anhaltischen Philharmonie unter der Leitung von Daniel Carlberg eine neue Choreografie mit dem Titel „Das verlorene Paradies“ (als Impulsgeber diente John Miltons „Paradise Lost“) beigesteuert. Was beim Weill-Intendanten Michael Kaufmann offenbar nicht so hoch im Kurs steht, wie beim begeistert jubelnden Publikum.
Kaufmann hatte die Noch-Theaterleitung mit einem Statement ziemlich in Rage gebracht, das durchaus als Musterbeispiel von Opportunismus in der Nähe der Schamgrenze durchgehen kann. Der hatte nämlich dem letztlich rausgeschmissenen Generalintendanten André Bücker (und dem Ex-Bauhauschef Oswalt gleich noch mit) vorgehalten, dass beide hätten Zukunft gestalten können, wenn sie die „neuen Rahmenbedingungen“ akzeptiert hätten. Genauso wünschen sich die Politiker wahrscheinlich ihre Leute!
Eine künstlerische Großtat
Dass es gute Gründe gibt, genau diese Bedingungen und damit die kulturpolitische Weisheit der Landesregierung laut und vernehmlich in Frage zu stellen, ist offenbar nicht bis zu Kaufmann durchgedrungen. Dabei hat das Dessauer Theater allein in den Bücker-Jahren seit 2010 16 Eigen- und Koproduktionen zum Weill-Fest und damit zu seinem Erfolg beigesteuert. Und das unter immer schwieriger werdenden Bedingungen. Zu denen Mittelreduzierung, personeller Aderlass und letztlich die wachsende Selbstausbeutung der Künstler als Beitrag zum Erhalt der Sparten gehören.
Allein schon, dass diese Produktion auf dem in Dessau gewohnt hohen Niveau heraus gekommen ist, wird da zu einer künstlerischen Großtat. Mit allen für Kajdanski-Choreografien bewährten Bestandteilen. Eine kluge Stückauswahl, die instinktsichere Musikzusammenstellung und die tänzerische Fantasie machen daraus auch diesmal ein überzeugendes Gesamtkunstwerk. Gemeinsam mit Ausstatter Dorin Gal und Enrico Mazzis abstrakt zerfließenden und sich neu formenden Projektionen auf der Riesenleinwand hinter dem auf der Bühne platzierten Orchester. In einer Abfolge von 15 Nummern wird so Musik von Paul Hindemith (1895-1963), Kurt Weill (1900-1950) und Arnold Schönberg (1874-1951) auf eine kluge und sich atmosphärisch verdichtende Weise kombiniert. Hindemith’s Sinfonie „Mathis der Maler“ gibt mit ihren Satztiteln „Engelskonzert“, „Grablegung“ und „Versuchung des heiligen Antonius“ die geistige Weite und musikalische Stimmung für den ganzen achtzigminütigen Abend vor.
Das ist verwoben mit Klavierliedern von Kurt Weill aus seiner Berliner und französischen Zeit sowie einigen spätromantischen Schönberg Liedern, die Karen Helbing, Cornelia Marschall und Stefanie Kunschke auf offener Szene zwischen dem Orchester und den Tänzern beisteuern, während Gerald Fiedler aus dem Off Verse „Vom Dunkel ins Licht“ aus dem 2 000 Jahre alten Gilgamesch Epos rezitiert. In der tänzerischen Umsetzung zieht Kajdanski mit seiner auf Nicola Brockmann, Charline Debons, Nicole Luketic, Anna-Maria Tasarz, Thomas Ambrosini, Yusuf Cöl, Julio Miranda, Joe Monaghan und David Stiven Valencia Martinez reduzierten Truppe alle Register, um vom Glauben ans Paradies und seinen Gefährdungen für die Menschen zu erzählen.
Ungeliebt von der Politik: André Bücker vollendet mit „Das Rheingold" den Dessauer „Ring" und nimmt seinen Hut
Von Jan BrachmannDigitalisierung ist die Zerstörung des Handwerks durch die Trennung von Hand und Werk. Einige Warner sehen darin ein Verhängnis. Sie glauben, dass wir uns mit dieser Trennung von Körperbewegung, Anschauung und deren Folgen das Gehirn wegklicken und die Empathie zu unserer Umwelt verlieren. Ist also die Digitalisierung der Fluch des Rheingolds in Richard Wagners Opern-Vierteiler „Der Ring des Nibelungen“?
Man könnte auf diese Idee kommen, wenn man sich mit André Bücker unterhält, dem Intendanten des Anhaltischen Theaters Dessau. Er hat gerade mit dem „Rheingold" seine erste „Ring"-Inszenierung vollendet, von hinten nach vorn, denn mit der „Götterdämmerung" fing er 2012 an. Es ist eine Art mediengeschichtlicher „Ring". Bücker erzählt: „Wir fangen bei der Höhlenmalerei an und enden bei der Festplatte. Auch das körperliche Spiel ändert sich, obwohl es in allen Teilen eine starke Stilisierung gibt. Aber von der freien, noch spontan wirkenden Körperlichkeit im „Rheingold“ geht es dann zu einer immer stärkeren Formalisierung in die „Götterdämmerung“ am Ende. Tatsächlich füllt am Anfang des „Rheingolds" eine tintenblaue Farbenkleckserei die schneeweiße Bühne von Jan Steigert. Doch auch sie spritzt schon digital vermittelt herum: durch Projektionen von Frank Vetter und Michael Ott. Wenn die Rheintöchter das Rheingold enthüllen, kreisen bunte Bilder durch die Luft: Aus der Höhle von Lascaux geht es bis zu Delacroix. Wenn die Sänger auch manchmal unnötigerweise in scharfes Sprechen verfallen, singen sie doch leicht und deutlich. Stefan Adam als Alberich macht das fast buffonesk, und Albrecht Kludszuweit als Loge singt Wagner mit der scharfzüngigen Coolness eines Brecht-Songs. Die weißen Belle-Epoque-Kostüme von Suse Tobisch und die flirtende Grazie der Bewegungen geben dem Ganzen den Charakter eines Pariser Konversationsstücks um 1880. Das ist hübsch, vor allem in Verbindung mit den feingezeichneten Linien des Orchesters.
Mehr als fünfzig Jahre hatte Dessau keinen kompletten „Ring" mehr. Im kommenden Mai werden, gleichzeitig mit einem internationalen Wagner-Kongress, noch einmal alle vier Teile zusammenhängend aufgeführt. „Der Ring des Nibelungen in der Bauhausstadt Dessau" heißt dieses Großprojekt, es steht unter der Schirmherrschaft des Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt, Reiner Haseloff (CDU). Das hat eine fast humoristische Note. Allem Anschein nach ist es nämlich Haseloff zu verdanken, dass „Das Rheingold" Bückers letzte Operninszenierung in Dessau sein wird. Er verlässt das Haus ebenso wie Generalmusikdirektor Antony Hermus, der den „Ring", wie man es von diesem hochbegabten Musiker erwarten darf, wach, behutsam und entschieden dirigiert.
Die große Koalition aus CDU und SPD, die das Land Sachsen-Anhalt regiert, kündigte 2013 an, die Förderung für die Theater werde von 36 Millionen auf dreißig Millionen Euro abgesenkt. Knapp drei Millionen davon sollten dem Anhaltischen Theater Dessau entzogen werden. Der Kultusminister Stephan Dorgerloh (SPD) empfahl den Dessauern, künftig auf Schauspiel und Ballett zu verzichten und nur noch Opern anzuschauen, vielleicht noch Puppentheater. Jedoch viermal in Folge sprach sich der Stadtrat für den Erhalt des Vierspartenbetriebs aus. Im April 2014 wurde dann beschlossen, die fehlenden Landeszuschüsse aus kommunalen Mitteln auszugleichen. Es handelt sich um Mehraufwendungen von zehn Millionen Euro in den nächsten fünf Jahren. Bücker und seinen Leitungsmitarbeitern ist es in Einzelgesprächen gelungen, mit 97 Prozent der Beschäftigten eine Zustimmung zur Teilzeitbeschäftigung von neunzig Prozent zu erwirken. Fünfzig Stellen müssen bis 2018 kündigungsfrei abgebaut werden.
Es gebe große Solidarität im Haus, sagt Bücker, diese Pläne umzusetzen. Doch im Frühsommer 2014 fanden Kommunalwahlen in Dessau statt. Der bislang regierende Oberbürgermeister Klemens Koschig (parteilos) unterlag seinem Herausforderer Peter Kuras von der FDP. Dessen erste Amtshandlung war es, Bückers Intendantenstelle zum 1. August 2015 neu auszuschreiben. Das war formal möglich, weil Bückers Vertrag schon 2013 nicht verlängert worden war, mit Blick auf die ungesicherte Zukunft des Theaters, obwohl das Geschäftsjahr 2013 einen Überschuss von 205 000 Euro und einen moderaten Anstieg der Besucherzahlen erbracht hatte.
Bücker berichtet, der neue Oberbürgermeister habe ihm damals im persönlichen Gespräch erklärt, er sei dem Land „nicht vermittelbar". Auch schon auf Koschig hatte die Landesregierung wegen dieser Personalie offenbar mehrfach Druck ausgeübt, doch der aus der Bürgerbewegung der DDR hervorgegangene Politiker gab diesem Ansinnen nicht nach, anders als nun Kuras. Dabei hatte sich ausgerechnet dessen Parteifreundin, die FDP-Politikerin Cornelia Pieper, an die Spitze der Volksinitiative „Kulturland Sachsen-Anhalt" gestellt, die Unterschriften sammelte, um gegen die geplanten Kürzungen im Kulturhaushalt durch die Magdeburger Landesregierung zu protestieren.Der Politikstil von Reiner Haseloff und Stephan Dorgerloh erregt inzwischen bundesweit Besorgnis. Birgitta Wolff, seit Januar 2015 neue Präsidentin der Goethe-Universität Frankfurt am Main, hat die Umstände ihrer Entlassung als Wirtschafts- und Wissenschaftsministerin in Sachsen-Anhalt 2013 inzwischen öffentlich gemacht: Haseloff sei dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments nicht zugänglich gewesen und verfüge über keinerlei Streitkultur. Ähnliches berichtet auch Bücker: Nachdem das Theater ein Rederecht im Magdeburger Landtag erwirkt hatte, seien die dort vorgetragenen Gedanken von den Abgeordneten einfach nur verlacht worden: „Argumente, 45 000 Unterschriften, Schülerdemonstrationen — das perlt an denen ab wie an Beton! Das bleibt alles folgenlos!"
Erfahrungen wie diese führen dazu, dass die Bürger den Staat immer weniger als öffentliche Angelegenheit empfinden. Der Parteienparlamentarismus stellt sich als geschlossener Club dar, der an der Willensbildung nicht mehr mitwirkt, sondern durchregiert. Ein Empathieverlust der Politik für die Gesellschaft, die Trennung von Souverän und Exekutive bis zum Gefühl der völligen wechselseitigen Fremdheit — das darf sich nicht zum Verhängnis für die Demokratie auswachsen.Bückers letzte Dessauer Inszenierung wird Johann Wolfgang von Goethes Schauspiel „Götz von Berlichingen" sein. Keine spontane Reaktion: Das war schon lange so geplant.
25.07.2014, blogs.nmz.de, Barbara Lieberwirth
Barbara Lieberwirth hat die Nichtverlängerung des Vertrages mit dem Generalintendanten Dessau/Roßlau, André Bücker, wohl richtig kommentiert.
Dem Generalintendanten des Anhaltischen Theaters in Dessau-Roßlau droht seit der Nichtverlängerung seines Vertrages die Ablösung. Nach Informationen der Mitteldeutschen Zeitung hält die Stadtführung Bücker landespolitisch für nicht mehr vermittelbar. Bücker hatte sich mit teils scharfen Angriffen auf die Landesregierung als führender Kopf des Widerstandes gegen die Kürzung der Theater-Förderung profiliert. Er hatte in den vergangenen Monaten offene Briefe verfasst und Demonstrationen organisiert, einige auch vor dem Landtag in Magdeburg. Wegen dieser Attacken soll er sich den Unmut der CDU/SPD-Regierung zugezogen haben. (Quelle nmz-online)
Wer aufmuckt, wer sich kreativ einmischt, ist nicht vermittelbar. Gesucht werden Personen ohne „Persönlichkeit“, solche wie beim SWR der Johannes Bultmann. Während man bei Bultmann nur mittelbar von einer politischen Entscheidung sprechen kann, ist es bei Bücker offensichtlich anders. Er war und ist unbequem, dazu noch kreativ . Und das nicht nur innerhalb des Betriebs sondern gegenüber der politischen Allmacht eines Landtages in Sachsen-Anhalt, einer großen Koalition der kulturpolitischen Dummheit aus CDU/SPD. Mittlerweile verlangt selbst die Deutsche Orchestervereinigung den Rücktritt von Kultusminister Stephan Dorgerloh.
„Die Äußerung von Kultusminister Stephan Dorgerloh, dass das Land den Kultureinrichtungen keine künstlerischen Konzepte vorgeben will, sind mehr als zynisch“, so Andreas Masopust, stellvertretender DOV-Geschäftsführer. (Quelle nmz-online)
Zum Schlimmen gehört, dass man sich bei all den aktiven Dingen in Sachen Stadt, Land, Kunst & Kultur einem bürokratischen Apparat gegenübersieht, der alles verdampfen lässt und zur Not auch mal rechtliche Knüppel in den Weg wirft. Man hat gute Erfahrung in der Abwehr und im Niederwingen, statt die Zusammenarbeit zu suchen und den Weg nach vorne zu wählen.
André Bücker nimmt es nach außen relativ gelassen, scheint es, äußert sich kaum, bedankt sich aber bei seinen Auftraggebern. Und das sind nicht die Minister sondern die Kunstnutzer.
In der Mitteldeutschen Zeitung steht in einem dort geführten Interview mit Bücker, was er unter Theater versteht:
Liebsein ist nicht unsere Aufgabe als Theater. Es gibt die Ansicht, dass wir unpolitische Amüsierbuden zu sein haben. Das sind wir nicht, wir mischen uns auch ein. Wir haben nicht nur protestiert. Wir haben auf allen Ebenen Gespräche geführt, auch mehrfach mit dem Minister. Es führte aber kein argumentativer Weg rein. (Quelle: Mitteldeutsche Zeitung, 24.7.2014)
Aber was sieht man an vielen Stellen, Arrangement mit der Situation. Nicht Lösungen werden gesucht, sondern Auflösungen. Und dazu passt natürlich auch das Verhalten des Präsidenten des Bayerischen Musikrats, Thomas Goppel, anlässlich des Kampfes für BR-Klassik auf BR. Erst macht man die Pferde mit einer Petition scheu und dann bescheidet man sich mit Aufgabenkatalogen. (Siehe nmz-online 1 und 2). Wenn aber schon die Standesvertretungen einknicken, was erwartet man dann von denen, die vor dem Publikum stehen? Toll gemacht, Bücker, aber morgen steht ein anderer an Deiner Stelle, solange halten wir Dir ein ehrendes Andenken. Und Tschüss.
Soll er sich doch neu bewerben, könnte man sagen. Die Stelle ist ausgeschrieben, soll er doch gegen gewünschte Duckmäuser antreten! Klar. Aber wie. Als zum Saulus gewendeter Paulus etwa?
25 Jahre nach dem Mauerfall sind neue Mauern hochgezogen. Der Geist muss der bürokratischen Maschine weichen:
„Geronnener Geist ist auch jene lebende Maschine, welche die bürokratische Organisation mit ihrer Spezialisierung der geschulten Facharbeit, ihrer Abgrenzung der Kompetenzen, ihren Reglements und hierarchisch abgestuften Gehorsamsverhältnissen darstellt. Im Verein mit der toten Maschine ist sie an der Arbeit, das Gehäuse jener Hörigkeit der Zukunft herzustellen, in welche vielleicht dereinst die Menschen sich, wie die Fellachen im altägyptischen Staat, ohnmächtig zu fügen gezwungen sein werden, …“ [Max Weber: Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland. Max Weber: Gesammelte Werke, S. 10352 (vgl. Weber-GPS, S. 332) ]
25.07.2014, Mitteldeutsche Zeitung, Kai Gauselmann
Sommergespräch mit André Bücker
Er war der Kopf des Spar-Widerstandes und verliert wohl seinen Job - das sieht der Dessauer Intendant André Bücker überraschend entspannt: „Ich weiß, was ich kann.“
DESSAU-ROSSLAU/MZ – Vom New Yorker Jazz-Club „Village Vanguard“, wo John Coltrane spielte, bis zum legendären Anwesen „Graceland“ von Elvis: 3 000 Kilometer ist André Bücker gerade auf den Spuren von Musiklegenden durch die USA gefahren. Zurück gekommen ist er mit Husten - zu viel Klimaanlagen-Luft. Ansonsten präsentiert sich der gebürtige Niedersachse überraschend entspannt beim Interview im Luisium, ein Schloss mit Park aus dem 18. Jahrhundert in Dessau-Roßlau. Der 45-jährige Regisseur und Intendant ist nach Stationen in Dortmund, Wilhemshaven und Halberstadt seit 2009 Chef des Anhaltischen Theaters. Über Ungerechtigkeit, Besserwisserei und seinen Lieblingsminister sprach mit Bücker MZ-Redakteur Kai Gauselmann.
Herr Bücker, wir sind im Luisium. Haben Sie einen grünen Daumen oder treiben Sie sich gerne im Garten der Macht herum?
Bücker: Das war einer der ersten Orte, die ich besucht habe, als ich nach Dessau gekommen bin. Und ich war sofort begeistert.
Ist das nur hübsche Kulisse oder verbinden sie damit tiefere Gefühle?
Bücker: Das Spannungsfeld von Natur und Kunst, diese völlig durchdacht-gestaltete Landschaft - diese Mischung macht für mich die Faszination aus. Dieses Spannungsfeld ist in jedem Menschen angelegt und spiegelt sich hier.
Sind Sie also als Typ so ordentlich wie ein englischer Garten?
Bücker: Auch Leute, die eine Portion Sehnsucht nach Unordnung haben, mögen Ordnung. Bei mir gibt es auch beides.
Ist das nicht widersprüchlich?
Bücker: Widerspruch ist doch das einzig Interessante an allen Dingen. Menschen geraten immer wieder in Extremsituationen und sind in Widersprüchen gefangen.
Das klingt, als würde es mit Ihnen nicht langweilig - aber auch anstrengend. Haben Sie jemanden gefunden, der das aushält?
Bücker (lacht): Es ist total angenehm mit mir zusammen zu leben! Ja, ich habe jemanden gefunden, der es mit mir aushält.
Und, wer ist so verrückt?
Bücker: Meine Freundin ist ehemalige Tänzerin und Italienerin. Die hat auch Temperament, das passt. Und wir haben einen kleinen Sohn, der ist jetzt drei.
Was hat Sie zur Kultur gezogen?
Bücker: Ich wollte eigentlich immer Archäologie studieren, weil ich mich seit meiner Kindheit für Geschichte interessiert habe. Eine Freundin war in einer Theatergruppe und hat mich mitgenommen, da habe ich mich als Schauspieler ausprobiert.
Also klassisch ein schlechter Schauspieler, der dann lieber inszeniert?
Bücker: Nein, ich weiß nicht, ob ich so schlecht war. Ich habe nur gemerkt, dass ich lieber der wäre, der die Anweisungen gibt. Ich glaube, ich war schon immer einer, der es besser weiß. Ich war auch Klassensprecher und im Stadtschülerrat und solche Geschichten.
Wie ist man passionierter Besserwisser, ohne dass es eklig wird? Ich frage für einen Freund.
Bücker: Ich bin nicht Besserwisser in dem Sinne, dass ich schon immer alles weiß. Sondern in diesem Sinne: Ich bin neugierig, das ist so ein Grundmotor von mir. Ich bin immer neugierig, bilde mir eine Meinung und entscheide gerne und schnell. Ich habe keine Angst vor Fehlern.
Warum, sind Sie leichtfertig?
Bücker: Nein. Ich bin nur bereit, Konsequenzen zu tragen. Für mich ist einfach nichts schlimmer, als keine Entscheidung zu treffen.
Als Zwischenfazit: Sie sind also ein angstfreier Besserwisser mit Neigung zum Widerspruch. Da waren Sie ja prädestiniert, den Widerstand gegen die Kürzungen an den Theatern anzuführen. Sie hatten Lust auf diese Auseinandersetzung, oder?
Bücker (lacht): Wenn man als Künstler keine Lust an der Auseinandersetzung hat, ist man kein Künstler. Ich hatte so alte sozialdemokratische Haudegen als Lehrer an der Schule. Die haben mir eingebläut: Man darf sich Ungerechtigkeiten nicht gefallen lassen und muss sich wehren.
Und als die Kürzungen kamen, war klar: Der Klassensprecher muss ran.
Bücker: Hätte ich das mit dem Klassensprecher mal nicht erzählt. Aber: Ja. Ich fand das einfach unanständig. Man kann doch nicht einfach von jetzt auf gleich so viel Geld aus so einem Betrieb ziehen, von dem man weiß, dass er schon strukturelle Probleme hat.
Haben Sie es eigentlich im Guten probiert, mit Gesprächen und dem Versprechen an den Kultusminister, immer lieb zu sein?
Bücker: Liebsein ist nicht unsere Aufgabe als Theater. Es gibt die Ansicht, dass wir unpolitische Amüsierbuden zu sein haben. Das sind wir nicht, wir mischen uns auch ein. Wir haben nicht nur protestiert. Wir haben auf allen Ebenen Gespräche geführt, auch mehrfach mit dem Minister. Es führte aber kein argumentativer Weg rein.
Dann haben Sie sich gesagt: Wer nicht hören will, muss fühlen?
Bücker: Nein, aber wir wollten Öffentlichkeit herstellen. Das ist ja normal, wenn man bei den Verantwortlichen nicht gehört wird. Dafür haben wir kreative Mittel bemüht, wie es zu uns passt.
Haben Sie sich auch Gedanken gemacht um das richtige Maß an Widerstand?
Bücker: Das war nie angelegt auf größtmögliche Provokation. Wir wollten nur die Diskussion in Gang halten.
In Ihrer Inszenierung der „Beggar’s Opera“ ist der Kultus-Staatssekretär Jan Hofmann (SPD) als lächerliche Figur „Mr. Hopeman“ aufgetaucht und es gab die Zeile: „Haseloff und Bullerjahn - kleiner Geist und Größenwahn“. Da kann man als Betroffener beleidigt sein.
Bücker: Nein. Das kann man nur als Beleidigung verstehen, wenn man das Stück nicht gesehen hat. Hopeman ist keine lächerliche Figur. Er ist in dem Stück der Träger der Ideen der Landesregierung - mit ganz viel Originalzitaten von Politikern. Wir haben nicht mit der Keule auf die Politik gedroschen.
Und das mit dem Kleingeist?
Bücker: Die Textzeile ist aus einer Szene, in der Hopeman seine Argumente sagt und die Schauspieler halten gegen. Das ist poetische Verdichtung und ein Stück Kabarett, das arbeitet mit den Mitteln der Zuspitzung und Persiflage. Sich satirisch kritisieren zu lassen - das gehört zum Tagesgeschäft eines Politikers. Nehmen Sie mal das Derbleckn in Bayern - was sich da Horst Seehofer anhören muss, während er dabeisitzt! Möglicherweise haben unsere Protagonisten nicht soviel Humor und Kritikfähigkeit.
Hat sich der Widerstand gelohnt?
Bücker: Ja. Wir haben etwas erreicht - und wir haben unsere Selbstachtung erhalten.
24.07.2014, Deutschlandradio Kultur, Fazit, Wolfgang Schilling
Ein Kommentar zum Kürzungskurs bei Theatern in Sachsen-Anhalt
Eigentlich sollte das Anhaltische Theater in Dessau seine Sparten Ballett und Schauspiel ganz aufgeben. Generalintendant André Bücker hat das verhindert - und wird dafür nun "entsorgt".
Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen. So wird es wohl ausgehen für André Bücker, den erfolgreichen Dessauer Kämpfer gegen die landespolitischen Theater-Sparpläne aus Magdeburg. Denn eigentlich sollte das Anhaltische Theater in Dessau seine Sparten Ballett und Schauspiel ganz aufgeben und fortan nur noch dem Musik- und immerhin (!) Puppentheater eine freilich sehr große Bühne bieten.
Platzkapazität des Hauses: 1250 Theatersessel. Die füllt selbst das kulturbegeistertste Bürgertum einer stetig schrumpfenden Doppelstadt wie Dessau-Roßlau nicht.
Aber verzichten wollten sie nicht auf ihr Theater und sein Angebot. Die Bürger haben gekämpft, gemeinsam mit den Theatermachern und dem nicht immer politisch-korrekt agierenden Intendanten André Bücker. Er ist ein Mann der stets offenen Worte und ob seiner immer scharfen Kritik an den skandalösen Magdeburger Sparplänen nun offenbar endgültig ins Visier des Kultusministers geraten. Obwohl er Lösungen geliefert hat.
Arbeitszeit und Gagen freiwillig reduziert Ballett und Schauspiel können unter seiner Intendanz erhalten bleiben. Arbeitszeit und Gagen werden dafür freiwillig um zehn Prozent reduziert, um so über die Runden zu kommen. Hamlet im Kurzarbeitermodus? Die Nummer wird aber wohl ausfallen. Denn erstens passt sie nicht in Minister Dorgerlohs Konzept, das solche Hausverträge abschaffen will.
Und ganz praktisch wurde unter dem neugewählten, offensichtlich stark Magdeburg hörigen Dessauer Oberbürgermeister der Intendantenvertrag von André Bücker nicht verlängert, die Stelle jetzt neu ausgeschrieben.
Bücker könne sich ja wieder bewerben, heißt es. Aber mit Verlaub, dieses Entsorgungsprocedere von kritischen Köpfen kennen wir vom Bauhaus. Dort war Philipp Oswaldt dem Minister nicht mehr genehm. Herr Dorgerloh weiß eben wo der Hammer hängt.
Wir reden nicht nur über Dessau Und jetzt will er die Bühnenbretter damit bearbeiten. Landesweit. Denn wir reden nicht nur über Dessau. Theater gibt es auch noch in Magdeburg, Halle, Stendal, in Eisleben und ganz am Rand - das Nordharzer Städtebundtheater. Diese in Quedlinburg und Halberstadt beheimatete Doppelbühne ist mit Musiktheater, Ballett und Schauspiel künstlerisch sehr erfolgreich unterwegs. Mittlerweile im wahrsten Wortsinn.
Die Bühne versteht sich zwar als klassisches Landestheater, reüssiert inzwischen aber zum bundesweit agierenden Abstecher-Theater. Mit Spielstationen von der Nordseeküste bis ins Allgäu. Kein Wunder, dass man in den Kulturkämpfen der letzten zwölf Monate von diesem Theater auch kaum etwas gehört hat.
Lag wohl vor allem daran, dass man hier weiß, was zu tun ist. Und sich seinen Eigenanteil am Gesamtetat praktischerweise an den Kassenhäuschen in der besser betuchten Ferne abholt.
30 Millionen sind viel weniger als bislang 36 Ja es geht um´s Geld. Um sehr viel sogar. Und 30 Millionen Landesförderung sind viel weniger als bislang 36. Aber, auch das muss gesagt werden, ist immer noch eine beachtliche Summe.
Mit der man sehr viel gutes Theater auf die Bühnen in Sachsen-Anhalt stellen könnte. Darüber müsste man reden. Wie die großen Theater in Magdeburg, Halle und Dessau neue, intelligente Formen der Zusammenarbeit finden könnten.
Doch das findet nicht statt. Was nach meinem Empfinden nicht an den Theaterleuten, sondern am Minister liegt und die Frage aufwirft, wann dessen Stelle eigentlich neu ausgeschrieben wird.
Er kann sich ja auch wieder bewerben.
Theatervertrag für das Anhaltische Theater unterzeichnet
Nach langem Ringen um den Erhalt des Anhaltischen Theaters als Viersparten-Haus unterzeichneten heute Sachsen-Anhalts Kultusminister Stephan Dorgerloh (SPD) und Klemens Koschig (Neues Forum), Oberbürgermeister der Stadt Dessau-Roßlau, in Anwesenheit des Dessauer Generalintendanten André Bücker und des Verwaltungsdirektors Friedrich Meyer den Theater- und Orchestervertrag für das Anhaltische Theater Dessau. Zuvor hatte im Jahr 2013 die Landesregierung Sachsen-Anhalts kurzfristig die Zuwendungen für das Anhaltische Theater um 3 Millionen Euro gekürzt und die Schließung der Sparten Ballett und Schauspiel vorgeschlagen. In einer beispiellosen, solidarischen Aktion erklärten sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bereit, einem Teilzeitmodell zuzustimmen, das durch Absenkung der individuellen Arbeitszeit und der Bezahlung Gelder einspart und so betriebsbedingte Kündigungen vermeidet. Generalintendant Bücker dankte noch einmal allen, die diesen wichtigen Schritt für die Zukunft des Hauses mit ihrem persönlichen wie mit ihrem politischen Engagement ermöglicht haben. „Natürlich erwächst aus dem großen finanziellen Einsatz der Stadt für ihr Theater auch eine besondere Verpflichtung der Bühne und ihres Ensembles für den Standort Dessau-Roßlau.“
An der Unterzeichnung des Vertrages nahmen neben der Dessauer Bürgermeisterin Sabrina Nußbeck auch Vertreter der im Stadtrat vertretenen Fraktionen teil. Die Stadt hat das neue Betriebsmodell des Theaters, das die mehr als drei Millionen Euro jährlicher Kürzungen durch das Land kompensieren muss, durch erhebliche Mehrausgaben erst ermöglicht. Der unterzeichnete Vertrag regelt die Finanzierung für das Viersparten-Haus bis zum Jahr 2018. Für diesen Zeitraum garantiert das Land der Stadt ab 2014 eine Grundförderung, die bei 5.315.100 Euro beginnt und durch eine neue Dynamisierungsklausel bis 2018 auf 5.750.000 Euro ansteigt. Neben dieser Förderung übernimmt das Land zudem einen Finanzbedarf in Höhe von 4.234.400 Euro für die so genannte Strukturanpassung in den Jahren 2014 bis 2018. Die Stadt steuert für die Dynamisierung und die Strukturanpassung jeweils Summen in gleicher Höhe bei. Damit findet ein langer und kräftezehrender Kampf um den Erhalt des traditionsreichen Theaters seinen Abschluss. Die 220. Spielzeit des Anhaltischen Theaters wird eine Spielzeit des Übergangs, der Transformation. Theaterleitung und Mitarbeiter werden dennoch mit Freude und Optimismus und einem mutigen Blick in die Zukunft dem Publikum ein Theaterangebot in großer Vielfalt präsentieren.
Weg für Modell bereitet
Die Belegschaft des Anhaltischen Theaters Dessau hat mit der notwendigen Quote von 95 Prozent die Einzelverträge unterschrieben, die einen zehnprozentigen Gehaltsverzicht bei entsprechendem Freizeitausgleich vorsehen. Damit ist seit gestern der Weg für das Modell frei, das den Erhalt aller vier Sparten sichern und zugleich die Kürzung der Zuwendung durch das Land Sachsen-Anhalt abfangen soll. Auch der Stadtrat der Stadt Dessau-Roßlau hatte sich einstimmig für den Erhalt der Anhaltischen Traditionsbühne ausgesprochen und beschlossen, für die nächste Förderperiode mehr Geld für das Theater zur Verfügung zu stellen. Diese Entscheidung und die beispiellose Solidarität der Mitarbeiter trägt zum Fortbestand des Anhaltischen Theaters bei, kann aber die Reduzierung der Stellen in diesen beiden Sparten nicht verhindern. Perspektivisch sieht das Modell nur noch acht Tänzerinnen und Tänzer sowie ebenso viele Schauspielerinnen und Schauspieler vor, wobei diese Zahl allerdings durch natürliche Fluktuation und nicht durch betriebsbedingte Kündigungen erreicht werden soll. Mit dem überwältigenden Votum für den Entwurf, den Generalintendant André Bücker und Verwaltungsdirektor Friedrich Meyer gemeinsam mit dem Personalrat des Anhaltischen Theaters und dem Theaterausschuss der Stadt auf den Weg gebracht haben, findet die Auseinandersetzung über die Zukunft des Anhaltischen Theaters, die von zahlreichen Protesten geprägt war, ein einvernehmliches Ende. Der Vertragsentwurf, der dieses Konzept aufnimmt, muss noch durch die zuständigen Ausschüsse des Landtages und des Stadtrates bestätigt werden. Bis Ende Juni soll dieser Prozess abgeschlossen sein. Dann hat das Anhaltische Theater für die nächsten Jahre Planungssicherheit.
»The Beggar’s Opera/Polly« in Dessau
Das Licht im Saal erlischt, der Vorhang aber bleibt geschlossen. So, wie dieser Abend in Dessau beginnt, könnte es am Anhaltischen Theater bald enden. Das Schauspiel und das Ballett des traditionsreichen Vier-Sparten-Hauses, das derzeit unter dem Motto »Was wir lieben« seine 219. Spielzeit absolviert, sollen abgeschafft werden. Das sieht der von der schwarz-roten Landesregierung abgesegnete Haushaltsplan vor. Das nennt sich in Sachsen-Anhalt »alternativlose Strukturanpassung«.
Aber hinterm Vorhang tut sich noch was. Ein Scheinwerferspot verfolgt die wandelnde Delle im Stoff, die einen Ausweg sucht. Schließlich kommt ein kräftiger Herr mit Zylinder und einem Jackett zum Vorschein, das auch schon bessere Zeiten gesehen hat. Das muss der Bettlerkönig Peachum sein, den man aus Brecht/Weills nach einer 1728 uraufgeführten Londoner Vorlage entstandenen »Dreigroschenoper« kennt. Denn in barocken Sprachschleifen angekündigt ist hier ja »Die Auffindung und Aufführung von ›Des Bettlers Oper‹ nebst ihrer lang verschollenen Fortsetzung ›Polly‹ durch die ehrbare Schauspieltruppe des Anhaltischen Theaters zu Dessau unter reger Anteilnahme von illustren Gästen aus der Gegenwart, kurz ›The Beggar’s Opera/Polly‹ - Balladenoper von John Gay und Johann Christoph Pepusch, neu gefasst und musikalisch angereichert von Christoph Reuter und Cristin Claas, mit Texten von Andreas Hillger unter Mitarbeit von André Bücker«.
Aber nein, nicht Peachum könne er heute sein, sagt der Herr vor dem Vorhang und tritt sogleich aus seiner Rolle. Gestatten, Gerald Fiedler sein Name, Schauspieler, der diesen Beruf einst erlernt und ergriffen habe, weil er an das Theater als moralische Anstalt glaubte. Nun sei es die letzte Zuflucht der Wirklichkeit. Man könne heute nicht spielen, weil … Nein, das sage er jetzt nicht, das mache er nicht, das sei unter seiner Würde.
Und da ertönt von oben eine Stimme, erhöhnt eher, als dass sie ertönte. Sie gehört Sebastian Müller-Stahl, jenem Schauspieler, der an diesem Abend als einziger ausschließlich die Rolle spielt, die ihm die Theaterleute zugewiesen haben, einen geschniegelten Politiker mit Anzug, Brille und Bürokratenmäppchen, den »Mann vom Land«, die zur Stückvorlage hinzuerfundene Figur Mr. Hopeman: »Mein Name ist Programm; die Hoffnung stirb zuletzt - also ich.« Ob er das Geld dabei habe, will Peachum/Fiedler wissen. Nein, aber er komme direkt vom Ministerpräsidenten - Fiedler: ohhh, ein Himmelsbote - und was er dabei habe, sei der Kabinettsbeschluss über die kurzfristige Reduzierung der langfristigen Überweisung.
In diesem Mr. Hopeman haben der Dramaturg Andreas Hillger und der regieführende Generalintendant André Bücker alles gebündelt, was ihnen seit Jahren von der sogenannten Kulturpolitik um die Ohren gehauen wird, und es in einem Akt der revolutionären Verzweiflung in eine Karikatur gekippt, die sich sehen lassen kann, obgleich sie hier alles andere als gern gesehen ist. Dass sich die Wut der Truppe vor allem gegen den Ministerpräsidenten Reiner Haseloff (»Reiner Wahnsinn!«) und Finanzminister Jens Bullerjahn (SPD) richtet, wird gar nicht erst verhohlen: »Rote Null« sei Hopemans Spitzname in Kabinettskreisen, ein Indianer aus dem Stamm der »Bullerhasen«, dessen letztes Fünkchen Leben schon in der »Schlacht von Nebra« erloschen sei.
Um Kunst machen zu können, sagt Dramaturg Hillger vor der Premiere, müssen wir diesen »Störenfried« erst mal von der Bühne bekommen. Von selber aber geht er nicht, behindert stattdessen jeden Versuch des Ensembles, seiner Arbeit nachzugehen. Hopeman spielt Schauspielerinnen gegeneinander aus, wittert allerorten Verschwendung, Müßiggang, nimmt dem Dirigenten (Daniel Carlberg) den Taktstock weg, um - Ermittlung von Einsparpotenzialen! - die Musiker im Orchestergraben zu zählen, die, derart fehlgeleitet, sofort in ohrenbetäubendes Katzengejammer verfallen.
Was sie denn überhaupt noch spielen sollten, wenn es ihnen derart an den Kragen ginge, will Fiedler wissen. Skat, schlägt Hopeman vor, dazu braucht man bloß drei Mann.
Gespielt, zum Glück, wird doch noch: »Bettlers Oper soll beginnen, wenn wir sind zu arm zum Sparen«. Weil, so heißt es, das Geld für den Bühnenumbau fehlte, gehen Peachum und Lockit, Polly und Lucy, Huren und Vagabunden ihren Geschäften in einer Plattenbau-Kulisse nach, die von der letzten Stadtrevue übrig geblieben sei, einschließlich Billig-Bierkästen, Spielautomat und Hinterhofgrill, an dem sich ein Typ im obligatorischen Trainingsanzug zu schaffen macht. Nicht zu vergessen: das einzige Spielplatzutensil in dieser »Schrumpfmetropole«: eine Reifenschaukel. An der wird Hopeman am Schluss des ersten Teils enden wie an einem Galgen. Erst zwängt das Volk ihn in die Lederklamotten des Oberganoven Macheath - der im Originalstück nur deshalb nicht gehängt wird, weil ein reitender Bote das in letzter Sekunde verhindert - aus Rücksicht vor dem Publikum. Als solch ein Bote hätte Hopeman ja in Dessau in Erscheinung treten können. Da er das nicht tut, wird der rettende Reiter gestrichen - und die Kulturpolitik ans Schafott ausgeliefert.
Einen Moment lang denkt man wirklich, sie würden ihn hängen. Aber dann knebeln sie ihn »nur«, fesseln ihn mit dicht an den Körper gepresster Frischhaltefolie an die Schaukel, verurteilen ihn so dazu, stummer (!) Zeuge von Teil zwei zu werden.
Und in diesem Teil nun, der Inszenierung von Gay/Pepuschs seinerzeit sofort zensierter Nachfolge-Oper »Polly«, zeigt das Ensemble endlich, was es drauf hat, wenn man es lässt. Gefeiert wird ein farbenfrohes, bis zum Überborden spielfreudiges Fest der Gaukler in einer fantasiestrotzenden Neue-Welt-Kulisse aus Wild-West-Bordell, Prärie und hoher See mit Heerscharen von Huren, Piraten, Indianern und Siedlern. Das Theater fährt alles auf, was es hat; das größte Spektakel seit drei Jahrzehnten. Tolle Schauspieler, deren jeder einzelne Name hier die Nennung verdient hätte, was nur aus Platzgründen und unter Verweis auf die komplette Personalliste des Theaters unterbleibt; das in Teil eins bereits in Zivil und unter Flüchen aus dem Saal gejagte Ballett in wahnwitzig weltentrückten Kostümen; ja selbst der Souffleur und die urwüchsige Kantinenfrau. Ein spielwütiger Ausweis dessen, was Theater sein kann, ist das. Ein sprachwitzgespicktes, potpourrimusikalisches, tragikomisches, hochprofessionelles Sprengwerk. Ein existenzieller Klamauk! Mit einem Schlusschor, der inbrünstig singt: »Es ist genug für alle da, ihr müsst es euch nur packen!« Mit einem Abspann auf dem Übertitelmonitor, der jeden nennt, der zu diesem Gelingen beigetragen hat - unter der Überschrift »Artists in Resistance« - Künstler im Widerstand. Standing Ovations. Minutenlang.
Und Hopeman? Muss dieser Leistungsschau eines selbstverwalteten (allerdings nicht selbst zu finanzierenden) Kulturbetriebs tatenlos zusehen. Woher soll er das Geld denn nehmen, wenn nicht stehlen? Oh, da weiß die Truppe Rat: der Ausbau der A 14, eine U-Bahn für Magdeburg, steigende Bezüge für eine Verwaltung, die nichts mehr zu verwalten hat - gäbe es da nicht »Einsparpotenziale«? Kultur in einer Region am Leben zu halten, aus der es viele wegzieht und in der nur noch bleibt, »wer nicht mehr gehen kann« - das ist eine Aufgabe, die man nicht abwehren darf, der man sich hingeben muss mit Geist und Geld. Dass es sich lohnen würde, beweist dieser Abend! Und andernfalls? Das Theater ist nur ein paar Schritte vom Bahnhof entfernt. Eine der wenigen »Sehenswürdigkeiten« zwischen da nach dort ist ein Schild, das den Weg zum »Historischen Arbeitsamt« weist.
Weitere Vorstellungen (hoffentlich): 2. und 15.3., 11.4., 3. und 18.5., 6.6.
Bundesvorsitzender der Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, Frank Bsirske und Steffi Lemke, Politische Bundesgeschäftsführerin von Bündnis 90/Die Grünen im Anhaltischen Theater
Am Montag, den 26. August, war der ver.di-Bundesvorsitzende Frank Bsirske zu Gast im Anhaltischen Theater - auf Einladung von Steffi Lemke, der Politischen Bundesgeschäftsführerin von Bündnis 90/Die Grünen. Generalintendant André Bücker führte den Gewerkschafter und die Politikerin sowie zahlreiche weitere Interessierte durch das Haus und berichtete über die aktuelle Situation vor Ort.
Die Gewerkschaft ver.di hatte die angekündigten Kürzungen für die Theater in Eisleben, Halle und Dessau zuvor scharf kritisiert. Dass die ausbleibenden Zuschüsse durch Lohnkürzungen bei den MitarbeiterInnen der Häuser kompensiert werden sollen, hatte die Gewerkschaft ebenso wie die Grünen abgelehnt. Frank Bsirske wies bei seinem Besuch immer wieder auf das Finanzierungsdefizit für die öffentliche Infrastruktur - insbesondere bei Kultur und Bildung - hin und mahnte eine breitere Finanzierungsbasis durch staatliche Mehreinnahmen an. Er zeigte sich beeindruckt von der Größe des Hauses und insbesondere von der pädagogischen Arbeit des Theaters. Über 10.000 Kinder pro Jahr erreicht allein die kleinste Sparte des Hauses, das Puppentheater.
„Ich drücke dem Theater die Daumen, dass die Landesregierung bei ihrem eingeschlagenen Kurs noch die Kurve kriegt. Es ist nicht nachvollziehbar, dass die Empfehlungen des Kulturkonvents keine Beachtung finden. Dieses Theater verdient eine andere Behandlung als die gegenwärtige von der Landesregierung Sachsen-Anhalt eingeschlagene Politik.“ – so der ver.di-Bundesvorsitzende Frank Bsirske. Im Hinblick auf die Bedeutung des Hauses und auf die Geschichte der Theaterstiftung mahnte er eine stärkere Beteiligung des Landes an der Finanzierung des Anhaltischen Theaters an und forderte mit Verweis auf das Nachbarland Thüringen, die Dessauer Bühne als Staatstheater in Trägerschaft des Landes zu betreiben.
Steffi Lemke formulierte es ebenso deutlich: „Die Hütte brennt! Hier wird Substanzabbau betrieben. Fällt auch nur eine Sparte weg, zieht dies einen Rutschbahneffekt nach sich, der nicht mehr umkehrbar ist.“ Im Anschluss an die Führung durch das Theater diskutierten Frank Bsirske, André Bücker und Steffi Lemke mit ca. 50 Interessierten unter ihnen auch VertreterInnen der Theaterbelegschaft und Vertreter weiterer Parteien, so Arne Lietz (SPD-Bundestagskandidat für Dessau-Roßlau und den Landkreis Wittenberg) und Stefan Gebhardt (Mitglied des Landtags von Sachsen-Anhalt für die DIE LINKE).
Horst Dichanz (opernnetz.de) hat André Bücker interviewt (8'20").
Mitteldeutsche Zeitung, 26.01.2013
Das Gremium fordert mehr Geld für die Kultur.
Geschafft! Bis an die “Grenzen zur Erschöpfung” habe man diskutiert, sagte Olaf Zimmermann (Foto) gestern Abend der MZ. Zwei Tage lang war der von dem Berliner Kulturpolitiker moderierte Kulturkonvent zu seiner letzten Arbeitssitzung zusammengekommen - unter Ausschluss der Öffentlichkeit in der Evangelischen Akademie in Wittenberg. Nahezu 200 Empfehlungen für eine künftige Kulturpolitik des Landes waren abzustimmen, sagt Zimmermann. Wobei es die meisten Diskussionen in den eher kleinen Fragen gegeben hätte. In der großen Linie fielen die Beschlüsse schnell und einhellig.
Der Konvent empfiehlt: Den Kulturetat von rund 85 auf 100 Millionen Euro zu erhöhen, zudem jeweils um einen jährlichen Inflationsausgleich von zwei Prozent aufzustocken. Der Bund soll sich künftig zu 50 Prozent an der Gesamtfinanzierung der Welterbestätten beteiligen. Sogenannte Kulturregionen sollen gesetzlich geschaffen werden, damit sich die Umlandregionen an den Angeboten der großen Städte beteiligen.
Diese Regionen sollen “gemeinsam solidarisch” finanziert werden. Dazu müsse das Verhältnis zwischen Land, Landkreisen und Städten, aber “auch und gerade zwischen den Kommunen” neu geregelt werden, sagt Zimmermann. Damit mehr Geld für die Kulturstätten in den Umlauf kommt, soll das Land die gesetzlichen Voraussetzungen für eine “Kulturförderabgabe” zu schaffen. Eine Art Kultursteuer, die bezahlt werden soll: Von wem? “Von Besuchern in touristisch interessanten Städten.”
Zudem solle ein Kooperations- und Innovationsfonds gegründet werden. Ideen, Projekte und Netzwerke, die Kulturstätten untereinander entwickelten, sollten aus diesem Fonds eine spezielle Finanzierung erhalten. Das sei eine Lehre des Konvents: mehr miteinander zu reden und zu handeln. “Das hat ja auch sehr gut funktioniert. Für viele das erste Mal, glaube ich”, sagt Zimmermann. Noch einmal wird der Konvent zur Übergabe des Berichtes an den Landtagspräsidenten und den Kultusminister zusammenfinden. Der Termin ist noch offen. Zimmermann hofft, dass es zu einer Debatte des Berichts im Landtag kommt.
Steffen Brachert, Mitteldeutsche Zeitung, 25.01.2013
Stadt will Zuschuss für 2013 von 7,2 auf 8 Millionen Euro erhöhen.
Die Stadt Dessau-Roßlau muss in diesem Jahr deutlich mehr für das Anhaltische Theater ausgeben als geplant. Der städtische Zuschuss, der seit 2001 bei 7,2 Millionen Euro liegt, soll für 2013 um etwa 800 000 Euro auf fast acht Millionen Euro steigen. Dies sieht eine Beschlussvorlage vor, die am Mittwoch im Finanzausschuss gebilligt wurde und am 30. Januar auf der Tagesordnung des Stadtrates steht. Das Land steuert 2013 8,13 Millionen Euro zur Finanzierung des Vier-Sparten-Hauses am Dessauer Friedensplatz bei.
Zuschlag durch Haustarifvertrag
Die Kostensteigerung hat zwei Gründe: Etwa 580 000 Euro Mehrkosten resultieren aus dem neuen, in vier Verhandlungsrunden mühsam ausgehandelten Haustarifvertrag. 205 000 Euro sind der Betrag, den Sachsen-Anhalts Kultusministerium Ende vergangenen Jahres dem Anhaltischen Theater einseitig aus dem “Vertrag der Region” gekürzt hat. Trotz heftiger Proteste. Der Haustarifvertrag am Anhaltischen Theater war im Dezember 2012 ausgelaufen. Am Ende lagen die Mitarbeiter am Haus zwischen 13 und 15,5 Prozent unter der flächentariflichen Bezahlung. Die Gewerkschaften hatten früh deutlich gemacht, dies nicht länger zu akzeptieren. Alle Forderungen umgesetzt, hätte sich der Zuschussbedarf um etwa eine Million Euro erhöht. Am Ende stand für 2013 ein Kompromiss, der für die Mitarbeiter am Theater ein durchschnittliches Plus von vier Prozent bringt - obwohl man von den flächentariflichen Vergütungen immer noch 10,5 Prozent entfernt ist.
“In Sachen Haustarifvertrag war es eine Minute vor 12”, sagte André Bücker, Generalintendant des Anhaltischen Theaters, froh “über die schwierige, aber absolut notwendige Einigung”. Die Mitarbeiter hätten viele Jahre verzichtet - und trotzdem beispielsweise 2012 tolle Zahlen erarbeitet. “Mehr Zuschauer, mehr Einnahmen, mehr Gastspiele”, zählt Bücker auf.
“Es war immer klar, dass beim Theater Mehrkosten auf uns zukommen”, sagte Finanzbürgermeisterin Sabrina Nußbeck. Dessau-Roßlau sei dank der erfolgreichen Klage vor dem Landesverfassungsgericht auf die finanzielle Gleichstellung mit den Oberzentren Halle und Magdeburg in der Lage, diese Mehrkosten zu stemmen. Das für Dessau-Roßlau positive Urteil spült 2013 5,7 Millionen Euro mehr in die städtischen Kassen, die allerdings größtenteils nicht erfüllte Konsolidierungsvorschläge ersetzen.
So wollte die Stadt 2013 das Land stärker in die Pflicht nehmen, den städtischen Zuschuss für das Anhaltische Theater halbieren und so 3,6 Millionen Euro sparen. Durch die Übertragung der Meisterhäuser an die Stiftung Bauhaus und des Georgiums an die Kulturstiftung Dessau-Wörlitz sollten weitere 800 000 Euro Kosten wegfallen. Doch die Halbierung des Theaterzuschusses war mit dem Spruch des Landesverfassungsgerichts hinfällig. In Sachen Georgium gab es keine Einigung. Statt der Übertragung soll nun ein - kostenneutraler - Kooperationsvertrag geschlossen werden. Die Übertragung der Meisterhäuser soll zwar nach Ende der Reparatur des Ensembles erfolgen. Sparen wird die Stadt hier nichts. Im Gegenteil: Der kommunale Zuschuss zur künftigen Betreibung der Welterbestätten wird von 135 000 auf 200 000 Euro steigen. Das Land gibt 250 000 Euro dazu. Es bleibt damit ein tatsächliches Plus von 1,3 Millionen Euro, aus denen nun für das Jahr 2013 die etwa 800 000 Euro genommen werden.
Wie es ab 2014 weiter geht, ist offen. Das Land Sachsen-Anhalt hat die Theater-Verträge durch ein Moratorium vorerst nur für 2013 verlängert, um die Empfehlungen des Kulturkonvents abzuwarten, der gerade ein Zukunftspapier für die künftige Kulturförderung im Land erarbeitet, auf dessen Grundlage neue - und wieder längerfristige - Theaterverträge ausgehandelt werden sollen. Fest steht schon, dass der Kulturkonvent fordert, den Landes-Kultur-Etat von 85,25 Millionen (2013) auf 100 Millionen Euro anzuheben. Die Theater und Orchester im Land sollen statt 36,25 dann 39,45 Millionen Euro erhalten. Ob es dazu kommt, ist offen.
Die Stadt Dessau-Roßlau will sich deshalb auf alles vorbereiten: Der Theaterausschuss hat am Montag den Grundsatzbeschluss gefasst, ein externes Gutachten zur Zukunft des Anhaltischen Theaters in Auftrag zu geben. 20 000 Euro sind dafür im Wirtschaftsplan 2013 des Theaters vorgesehen. In den nächsten Wochen soll zum einen die genaue Aufgabenstellung für das Gutachten arbeitet werden, zum anderen werden auf Theater spezialisierte Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsunternehmen gesucht, die gezielt zur Angebotsabgabe aufgefordert werden sollen.
Welches Büro den Zuschlag erhält, soll im Hauptausschuss entschieden werden. Zudem ist geplant, den Prozess mit einer Lenkungsrunde mit Stadträten zu begleiten. “Wir müssen die Frage beantworten, was für ein Theater sich die Stadt leisten kann und welche Optionen es gibt”, sagte Finanzbürgermeisterin Nußbeck. Ein Ergebnis soll schon Mitte 2013 vorliegen, um gewappnet in die Verhandlungen mit dem Land für einen neuen Theater-Vertrag zu gehen.
Personalkosten steigen weiter
Denn klar ist schon jetzt, dass neue Kosten auf die Stadt zukommen. Ende 2013 steigt die Orchestervergütung um weitere 4,95 Prozent an. Das würde eine weitere Personalkostensteigerung von etwa 180 000 Euro zur Folge haben.
Mitteldeutsche Zeitung, 24.1.2013
Wer bislang hoffte, der Kulturkonvent würde willfährig dem Sparwillen der Landesregierung zuarbeiten, wird nun eines besseren belehrt. Statt in erster Linie Hinweise zu unterbreiten, wo und wie Landesgeld gestrichen werden kann, wird das im Herbst 2011 gegründete Gremium wohl erst einmal das Gegenteil empfehlen. Der Moderator des Kulturkonvents, Olaf Zimmermann, schlägt eine dauerhafte Erhöhung des Landes-Kulturetats auf 100 Millionen Euro vor.
Der umfasst zur Zeit 85,25 Millionen Euro - fünf Millionen Euro weniger als noch im Jahr zuvor. Ohne eine Erhöhung der Summe sei die vorhandene Zahl der kulturellen “Großstrukturen” im Land kaum zu halten - und schon gar nicht sinnvoll zu reformieren, sagte Zimmermann der MZ.
Dessen Vorschlag soll auf der letzten Klausurtagung des Kulturkonvents diskutiert werden, die Donnerstag und Freitag in der Evangelischen Akademie in Wittenberg stattfindet. Im Zuge der Tagung wird über die Empfehlungen für eine künftige Kulturpolitik des Landes abgestimmt. Letztgültig. Dann geht der Abschlussbericht in die End-Redaktion. Es ist wahrscheinlich, dass das Gremium in der Empfehlung zur Etat-Frage dem Vorschlag Zimmermanns folgen wird. Damit würde der Konvent von der bisher zur Orientierung dienenden Ein-Prozent-Regel abrücken, wonach der Kulturetat eines Landes rund ein Prozent des Gesamthaushaltes ausmachen solle. In Sachsen-Anhalt ist dieser Wert längst unterschritten. Und für Zimmermann angesichts der künftig schrumpfenden Haushalte auch nicht mehr sinnvoll. “Wir müssen weg von der Ein-Prozent-Regel”, sagte er der MZ. Und hin zu einer “verlässlichen und vernünftigen Festschreibung” des Etats - und das bis zum Jahr 2025.
Doch bei einer rein formalen Festschreibung von 100 Millionen Euro im Jahr soll es nicht bleiben. Ginge es nach Zimmermann, müsse diese Festschreibung an eine “Dynamisierung” von jährlich zwei Prozent gekoppelt werden. Anders sei weder der schleichenden Inflation noch den steigenden Kosten und Löhnen zu begegnen. “In 15 Jahren wird eine Summe von 100 Millionen Euro nicht mehr denselben Wert haben wie heute”, begründet Zimmermann seinen Vorstoß. “Ich denke, dass die Zeiten nicht schlecht sind, um diese Maßnahmen zu diskutieren.” Erst kürzlich hätten Thüringen und Niedersachsen ihren Kulturetat erhöht. Allerdings sei die “Dynamisierung” im Konvent umstritten.
Zumindest die Forderung nach einer Aufstockung des Kulturetats dürfte auch im zuständigen Ministerium auf Beifall stoßen, wenngleich sich Ressortchef Stephan Dorgerloh (SPD) am mittwoch noch bedeckt hielt. “Ich will das zunächst nicht kommentieren, das ist noch ein Entwurf aus dem Konvent, der noch nicht beschlossen ist”, sagte Dorgerloh der MZ. Die Zurückhaltung dürfte wohl aus dem ohnehin angespannten Verhältnis zu Finanzminister Jens Bullerjahn (SPD) resultieren, mit dem Dorgerloh seit Wochen wegen der Frage von zusätzlichen Einstellungen von Lehrern - 400 statt bislang gut 200 jährlich - über Kreuz liegt. Tatsächlich kann der Kultusminister aber auch jeden Cent mehr in seinem Kulturetat gebrauchen: So ist etwa der Denkmalschutz in seinem Haus seit Jahren unterfinanziert, jährlich steht gerade eine halbe Million Euro frei für Projekte zur Verfügung - in einem Land mit vier Weltkulturerbe-Stätten. Die Antragsliste für Denkmalschutz-Sanierungen ist mit bis zu zwölf Millionen Euro jährlich damit quasi 20-fach überzeichnet. Zudem braucht Dorgerloh Geld für die geplante Strukturreform der öffentlichen Stiftungen und für seit Jahren unterfinanzierte Tarifverträge bei Kulturinstitutionen, wo Mitarbeiter inzwischen über Projektmittel finanziert werden müssen. Und 2015 soll es eine Landesausstellung zum Thema Cranach geben - auch die wird Geld kosten.
Nicht zuletzt muss in Sachen Theater und Orchester gehandelt werden, die mit 43 Prozent den größten Anteil des Kulturetats schlucken. Was nicht ausreicht, um die Kosten zu decken: Die Unterfinanzierung soll bei rund 6,5 Millionen Euro liegen. Der Entwurf des Abschlussberichtes schlägt deshalb eine Erhöhung der Ausgaben von derzeit 36,25 auf rund 39,45 Millionen Euro vor - und das im Zeitraum von 2014 bis 2020. Eine Maßnahme, die in zweifacher Hinsicht notwendig sei. “Die Haustarifverträge müssen weg”, sagte Olaf Zimmermann. Denn es sei “einfach nicht gerecht”, dass ein Bereich der öffentlichen Verwaltung zu Sparlöhnen verdammt sei. Diese Ungerechtigkeit müsse endlich einmal wirksam beseitigt werden.
Donnerstag wolle man “open end” diskutieren, sagt Zimmermann. So lange, wie es die Sache erfordere, die im schriftlichen Entwurf bereits rund 170 DinA4-Seiten füllt. Innerhalb der nächsten zwei Wochen soll der Bericht an den Landtag gehen. Damit hätte der Kulturkonvent seine Aufgabe erfüllt.
Wer dann Entzugserscheinungen nach den Debatten eines unabhängigen, öffentlich tätigen Kulturgremiums verspürt, dem kann geholfen werden. Sehr wahrscheinlich wird der Konvent die Gründung eines Kulturrates für Sachsen-Anhalt empfehlen, der künftig die Interessen der Kulturakteure des Landes vertritt.
Beim Blick auf die jüngsten Meldungen aus Stadt und Land könnte man seinen Glauben an Zeichen und Wunder erneuern: Da verabschiedet einerseits der sachsen-anhaltische Kulturkonvent statt einer lange und nicht ganz zu Unrecht befürchteten Liste von Kürzungsvorschlägen die Empfehlung, den Kulturetat des Landes um rund 15 auf 100 Millionen Euro jährlich aufzustocken und mit einem dynamischen Inflationsausgleich auszustatten. Und da bekennt sich auf der anderen Seite die Stadt Dessau zur Erhöhung ihres Anteils am Anhaltischen Theater um 800 000 Euro – was für ein Signal in einer chronisch klammen Kommune! Allerdings sind diese positiven Nachrichten kein politischer Gnadenakt, sondern das Ergebnis harter Verhandlungen und öffentlicher Proteste: Wenn sich das Dessauer Ensemble nicht lautstark gegen die einseitige Etat-Kürzung durch das Land zur Wehr gesetzt hätte, wären die prekären Verhältnisse aller Theater in Sachsen-Anhalt wohl kaum so umfassend diskutiert worden. Und wenn die Stadt Dessau nicht gegen die ungerechte Behandlung im Finanzausgleich geklagt hätte, könnte sie die geplante Aufstockung nun gewiss nicht stemmen. So kann man die guten Neuigkeiten wohl nur als überfällige Korrekturen eines schlechten Zustands werten … und muss abwarten, ob den Worten des Konvents auch Taten des Landes folgen! Sicher ist immerhin, dass es dafür ein gutes Vorbild gibt: Wenn dem Landtag von Sachsen-Anhalt Mut und Argumente für das nötige Bekenntnis zur Kultur fehlen, hilft ein Anruf im Dessauer Rathaus!
Bühnentechnische Rundschau, Juni|Juli 2012
Der Ring des Nibelungen ist für jedes Opernhaus eine Herausforderung, für ein Stadttheater wie das Anhaltische Theater ein wahres Wagnis. Die Götterdämmerung ist die vierte und letzte große Erzählung von Wagners Nibelungen-Tetralogie. In Dessau bildet sie den Anfang des Ring-Zyklus’, der bis 2015 mit jährlich einer Premiere auf die Bühne gebracht wird. Ein gelungener Auftakt.
Von Irmgard Berner
„Schlussstein“ nennt Generalintendant André Bücker diesen Anfang des Mammutprojektes Ring, und bezieht sich zugleich auf das verformbare Spiel-Objekt, den riesigen Walkürenfelsenwürfel, den er und sein Bühnenbildner Jan Steigert in enger Zusammenarbeit mit der Technik und der Spezialfirma Hoac entwickelt haben. Eingebaut ist er in eine vielschichtig vibrierende Raumlösung mit galaktischem Lichtzauber, simultan ablaufenden Wagenfahrten und schwindelerregenden Drehungen in offenen Verwandlungen. Eine komplexe Fülle an Abläufen, die für das Haus nicht nur technisch neu ist, sondern auch seine Kapazitäten bis aufs Letzte austestet. Denn neben bildstarken Räumen ist Wagners Gesamtkunstwerk durch seine überbordende Länge extrem fordernd und treibt jeden Spiel- und Dienstplan an seine Grenzen. Die technische Umsetzung ist also das eine, den reibungslosen Ablauf im Proben- und Vorstellungsbetrieb am Laufen zu halten, das andere und funktioniert nur durch das konzertante Zusammenspiel aller Kräfte auf und hinter der Bühne. Diesen Härtetest hat das Anhaltische Theater bravourös bestanden.
Belastbarkeit auf allen Ebenen
Im Arbeitslicht auf der Hinterbühne ragt der mächtige Würfel wie ein Monolith in den Bühnenhimmel. Seine Oberfläche glänzt tiefschwarz, Bühnentechniker auf Stehleitern spiegeln sich in dem schwarzen Lack während sie die letzten Verblendungen auf die Zargteile montieren. Es herrscht geschäftige Ruhe, die Vorstellung Götterdämmerung wird gerade eingerichtet, Zeichen und Positionen kontrolliert, Züge mit Dekorationsteilen und der ausladenden Ring-Schiene, an der transparente, leicht gerundete Wände und Beamer hängen, werden hochgefahren. „Alles zu koordinieren und zeitgleich hinzukriegen war die größte Herausforderung“, sagt Helmut Uschmann, Technischer Direktor des Vierspartenhauses, am Rande der Bühne. Bei diesem Werk von fünf Stunden Spieldauer habe man für Vor- und Nacharbeiten kaum Zeitpuffer. Zudem sind viele der Bildverwandlungen – von Wagner meist musikalisch durchkomponiert - offen und müssen vor dem Zuschauerauge filmisch ablaufen.
Der Würfel ist eines der zentralen Bühnenelemente dieser sehr bildkräftigen, formalen Inszenierung. Er ist Teil der Raum-Zeit-Maschine, die Bücker und Steigert in Anlehnung an den von den Bauhaus-Avantgarden erfundenen „Automaten“ als Walkürenfelsen ersonnen haben. Geheimnisvoll taucht er nach dem Vorspiel aus dem Bühnenhintergrund auf, dreht sich ins Zentrum wo gerade noch die Rheintöchter die Vorgeschichte des Ring-Mythos’ erzählt haben, fächert sich wie von unsichtbarer Hand zu einer frei schwebenden Treppe auf und lässt so die auf dem Fels wohnende Brünhilde herabsteigen.
Was einer Kamerafahrt gleich und wie von Zauberhand bewegt scheint, beruht auf penibel ausgetüftelter Technik, die den Verantwortlichen im Vorfeld so einiges Kopfzerbrechen bereitete. Denn der riesige Kubus wiegt, bei Seitenlängen von vier Metern vierzig, ganze neun Tonnen. Das erste Problem entstand schon in der Planungsphase und war natürlich: „Das Gewicht“, sagt Uschmann. „Auf 500 Kilo pro Quadratmeter ist die Belastbarkeit der Bühne ausgerichtet. Auf der Drehscheibe ist sie zum Glück günstiger, da die Trägerlagen enger liegen - daher ist dort statisch der günstigste Ort.“ Der Würfel war von vornherein für den Drehscheibenwagen konzipiert, da er sowohl fahr- als auch drehbar sein sollte. „Zusammen mit der Firma Hoac haben wir lange gezirkelt und gerechnet, sodass wir mit der Belastung gerade so hingekommen sind.“
Der Walkürenfelsen-Würfel und seine Entwicklung
Der Würfel nahm auch für die Konstrukteure der Firma Hoac mehrstufige Hürden. Denn er musste ja auch begehbar sein: „Das Gewicht niedrig zu halten bei möglichst geringer Durchbiegung“, erklärt Hoac-Projektleiter Matthias Lorch, „erwies sich als schwierig. Wir mussten anstatt Holzbelägen geschäumte Leichtbauplatten mit Alueinlage verwenden, weil die deutlich leichter sind. Normalerweise verwenden wir bei unseren Standardteilen MdF-Plattten, die wären hier aber zu schwer. Und dünner als 16 Millimeter durften sie auch nicht sein, weil die Stabilität sonst nicht mehr gewährleistet wäre.“
Nachdem der künstlerische Entwurf und die technischen Erfordernisse besprochen waren, fing Matthias Lorch Anfang Dezember 2011 mit der Konstruktionsplanung an. Die Zeit wird knapp, bis der endgültige Würfelaufbau feststeht: Seine Höhe von über vier Metern ist in 14 Ebenen geschnitten, mit je knapp 30 Zentimetern Dickung. Die unterste Ebene steht fest auf dem Boden. Die 13 darüber gestapelten Ebenen sind um eine Achse drehbar gelagert: „Wir haben eine Säule und um die unterste Ebene ein Stahlgerüst, das auf dem Boden aufliegt. An dieser Säule sind Drehlager angeflanscht, die Säule ist exzentrisch eingebaut, circa ein Meter vom Rand entfernt“, beschreibt Lorch die Konstruktion. „In der Mitte ist ein Loch und die Stege außen rum sind begehbar.“ Die einzelnen Ebenen mussten leicht sein und sind deshalb aus Aluminium, in Form der Hoac-Standardzargen. Säule und unterste Ebene sind aus Stahl gebaut, da sie alles tragen und gegen Durchbiegung und Neigung herhalten müssen. Die Ebenen sind auf Drehlagern, die normalerweise im Kranbau eingesetzt werden, an die Säule montiert. „Die Lager mit 800 Millimeter Durchmesser sind wirklich massiv.“ Jede Ebene ist begehbar, aber nur von einer Person, zwei Personen dürfen den Würfel insgesamt bespielen. „Wenn hier außen jemand steht, ist das ein enormer Hebelarm, der auf dieses Lager wirkt. Jedes Lager mit der Platte darunter wiegt alleine schon 100 Kilo“, sagt Lorch. „Statisch war das nicht ganz einfach, deshalb haben wir mit einem externen Statiker gearbeitet.“ Die neun Tonnen kann man von außen jetzt nur noch erahnen.
Würfel-Montage
„Die Zusammenarbeit mit Hoac lief sehr gut“, sagt Uschmann. Ein weiteres Problem sei allerdings bei Anlieferung durch die schiere Masse von Teilen aufgetreten: tausend Einzelteile mit über viereinhalb Tausend Schrauben – „zum Zusammenbauen eine gefühlte Ewigkeit.“ Zur Montage arbeitete Lorch deshalb mit den Theatertechnikern Hand in Hand. Man baute direkt auf den Drehscheibenwagen und benutzte die Züge, um die Lager über die Säule zu stülpen. Erstaufbau war am 16. April, zwischenzeitlich wurde der Würfel noch mal abgebaut, Nachbesserungen folgten. Denn im Probenprozess musste er seine Funktionalität unter Beweis stellen – ein schwieriges Unterfangen, es gab Alarmanrufe an die Hoac-Konstrukteure, weil sich die Säule neigte, die Ebenen ineinander verklemmten und verriegelt werden mussten. Anschläge und Rollen wurden punktuell untergebaut, damit die Ebenen übereinander gleiten können. Man einigte sich schließlich auf eine magnetische Verriegelung, die verhindert, dass sich die Ebenen im aufgefächerten Zustand verschieben, wenn die Sänger sie betreten. Das Unikat wurde also mit vereinten Kräften, zum Teil nachts, weiterentwickelt und funktioniert jetzt reibungslos. „Wir haben halt ständig dran rumgebastelt“, zeigt sich Helmut Uschmann nun mit dem Ergebnis zufrieden. Der Kubus oder „Schlussstein“ wird als Walkürenfelsen in den weiteren Folgen der Tetralogie wieder auftauchen und zur auskragenden Spiraltreppe auffächern.
Silent-Move-Ring für Multimedia
Ein weiteres Bühnenelement, das den kreisend bewegten Licht-, Farb- und Schattenzauber produziert ist der mehrteilige Traversenring mit Laufwagen für Beamer und Projektionswände. Er schwebt über der Spielfläche. Mit seinen 15 Metern Spannweite trägt dieser Trassring ein passgenaues Silent Move Profil: „Die Ringprofile sind in Laufwagen gelagert und werden über ein Reibrad angetrieben. In jedem der zwei Ringe sind je ein Beamer gegenüber einer Leinwand montiert, sodass, wenn der Ring dreht, der Beamer immer exakt auf die Leinwand projiziert“, erläutert Matthias Lorch. „Das sind von Hoac entwickelte Silent-move-Profile, die normalerweise für Personen-Flugwerke - hier also etwas zweckentfremdet - eingesetzt werden.“ Vier Beamer sind während der Vorstellung praktisch permanent im Einsatz: zwei im Trassring für die Spielflächenprojektionen, einer wirft vom Zuschauerraum aus seine wabernden Lichtfetzen und galaktischen Blitze auf die breite weiße Portaleinrahmung. Der vierte projiziert die Übertitelung auf das Portal. Zusätzlich gibt es in den Logen Flachbildschirme, damit die Zuschauer auch dort die Übertitelung sehen können.
Gibichungenhalle und offene Verwandlungen
Die Turmkonstruktion für die Gibichungenhalle ist eine offene Stahlkonstruktion und wurde in den hauseigenen Werkstätten gefertigt. Das Gerüst steht auf dem linken Seitenbühnenwagen und wird während der großen Verwandlung in die Bühnenmitte gefahren, manuell und ohne Zeichen, während der Drehscheibenwagen mit dem Würfel nach hinten verschwindet. Für den Zuschauer spielt sich vorne zu Wagners Zwischenspiel ein kosmisches Leuchten auf den halbtransparenten Wandpaneelen ab. Zugleich werden von der Unterbühne aus die Schieber geöffnet und die Versenkung zentimetergenau eingefahren, damit die Fahrstühle passgenau durchfahren können. Sie werden auf den zwei Versenkungstischen zusammen mit der Plattform aus Plexiglas installiert. Auf dieser stehen die „Götter“, Gunter, Gutrune, Siegfried, Brünhilde, Waltraute und fahren offen in den Liften auf und ab.
Die Verwandlungen müssen schnell, leise und präzise laufen. Von vorne sieht man einige zusätzliche Schatten in den Lichtschichten des Farbspiels über die Projektionswände huschen. Koordination und Zusammenspiel aller Bereiche in Technik, Beleuchtung, Ton- und Videoabteilung fordern diesen offenen Verwandlungen - wie hier zur Gibichungenhalle in nur zwei Minuten vierzig – alles ab. „Das ist gerade so zu schaffen“, sagt Helmut Uschmann. Die Verwandlungen müssen musikalisch und auf Sicht gefahren werden, während alles gleichzeitig bewegt wird. Passgenau eingerichtet, mit dem Trassring, der hoch und runter fährt, an den Horizontbeleuchtungen vorbei: „Eine Zitterpartie“ sagt Uschmann, „jeder, der das fährt, ist wirklich gefordert.“ Diese Götterdämmerung ist „das technisch Aufwendigste, was wir bisher gemacht haben.“
Spielbetrieb und Star Wars Leuchtschwerter
Auch der Spielbetrieb klappt nur mit äußerst geschickter Planung: „Man kann die Leute laut Tarif maximal zehn Stunden am Stück beschäftigen. Bei einer Spieldauer von fünfeinhalb Stunden bleibt zum Einrichten, Beleuchten und Projektionen-Testen nicht viel Zeit. „Deshalb ist das bei uns nur nachts zu machen“, erklärt Uschmann: „Wir bauen nachts alle großen Elemente auf – den Walkürenfelsen, die Gibichungenhalle, den Trassring mit den Beamern, das Rheinufer auf der Vorbühne.“ Auch mithilfe der Werkstätten. Dann kommt die Vorstellungsschicht dazu und macht die Restarbeiten mit Einleuchten etcetera. Das geht nur mit zwei Theatermeistern - einer kümmert sich um Gibichungenhalle und Walkürenfelsen, der andere nur um den Trassring und sagt an, welche Drehung wann wohin muss. „Ein Theatermeister allein könnte das gar nicht mehr überblicken.“ Dann ist also die Vorstellung von fünfeinhalb Stunden gelaufen und es ist „Dienstende und Ende der Fahnenstange.“
Aber es ist zu schaffen: Bis zu 17 Bühnentechniker, sechs Beleuchter plus ihr Meister und drei Aushilfen für die vielen Verfolger - es gibt keine Zuschauerraumbeleuchterbrücke - drei Ton- und Videoleute, aber nur ein Requisiteur, sind im Einsatz. Bei den wenigen Requisiten hat sich das Regie-Team dafür einen Bubentraum erfüllt: der komplette Chor der Gibichungen ist mit Leuchtschwertern ausgestattet – ein tolles Bild, wenn die Mannen die dunkle Bühne wie mit Runenzeichen leuchtbeschriften als würden sie zugleich aus George Lucas’ Star Wars-Universum winken. Die Dessauer Mannschaft, die auch die Leistungsfähigkeit ihres Hauses und seiner Mitarbeiter hiermit dokumentiert, kann zu Recht stolz sein. So wird also nicht nur die Wagner-Ring-Tradition fortgesetzt, sondern diese Götterdämmerung verleiht der Stadt als „Bayreuth des Nordens“ den ersten Glanz.
Im Jahr 2009 kam André Bücker in der Nachfolge Johannes Felsensteins als Generalintendant an das Anhaltische Theater. Damit verbunden war ein umfassender Wechsel beim Leitungspersonal des Theaters. Generalmusikdirektor wurde Antony Hermus, Ballettdirektor Tomasz Kajdanski. Unter der neuen Leitung vollzog sich eine künstlerische Neuausrichtung. Auch in der Stadt Dessau passiert seither viel, um das Theater in Stadt und Region zu verankern. Barbara Haack sprach für „Oper & Tanz“ mit dem Intendanten und dem Generalmusikdirektor über kultur- und finanzpolitische Fragen sowie über die künstlerische Ausrichtung des Theaters.
Eine Kraft, mit der man wuchern kann
Oper & Tanz: Auf Ihrer Webseite findet man die Nachricht, dass der Dessauer Stadtrat am 25. April den Erhalt des Anhaltischen Theaters in seiner bestehenden Form beschlossen hat. Das klingt positiv, aber was bedeutet das für Ihr Theater? Bedeutet es, dass Sie genügend Geld haben?
André Bücker: Das sind zwei verschiedene Dinge. Ja, der Beschluss ist absolut positiv für uns. Genügend Geld haben wir aber trotzdem nicht. Es gab Anfang des Jahres 2010 eine so genannte Blut- und Tränenliste. Mit dieser Liste wurde eine Haushaltskonsolidierung der Stadt beschlossen. Für das Theater standen Kürzungen von 3,7 Millionen Euro an. Das wäre das Ende des Anhaltischen Theaters gewesen. Damals war ich gerade ein halbes Jahr im Amt. Hier in der Stadt hat sich sofort bürgerlicher Widerstand gegen solche Streichungen formiert. 14.000 Unterschriften wurden gesammelt. Und jetzt gab es einen einstimmigen Stadtratsbeschluss, der besagt, dass diese Konsolidierungsbeschlüsse nicht umgesetzt werden. Die Stadt steht vielmehr in Höhe der bisherigen Förderung weiter zu ihrem Theater. Das ist für uns ein großer Erfolg. Zum Thema Geld: Nein, wir haben nicht genügend Geld. Wir arbeiten ja unter Haustarifvertragsbedingungen. Dieser Haustarifvertrag spart 1,8 Millionen Euro ein, das heißt die Mitarbeiter erbringen diese Summe durch Verzicht auf tarifgerechte Entlohnung. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass uns für den jetzigen Betrieb strukturell 1,8 Millionen Euro fehlen. Dazu kommen die Tarifsteigerungen, die wir auch nicht dynamisiert haben. Die Lage ist also problematisch. Andererseits ist es natürlich ein deutliches Zeichen an das Land Sachsen-Anhalt, wenn die Stadt Dessau sagt: Wir stehen zu unserem Theater.
O&T: Sie haben ein breites Spektrum an Unterstützern, darunter auch Institutionen, die längst nicht alle aus dem Kulturbereich kommen. Wie erklären Sie sich eine solche Solidarität der Gesamtgesellschaft zu ihrem Theater?
Bücker: Das Theater ist ein ganz zentraler Akteur in der Stadt. Wir versuchen uns in sämtliche gesellschaftliche Bereiche einzumischen und uns möglichst breit zu vernetzen. Und ich glaube, dass wir eine ganz gute Arbeit machen. Die Reaktion der Institutionen, die ich angesprochen habe, lautete: Natürlich unterstützen wir Euch. Für uns ist das Theater ein wichtiger Faktor gesellschaftlicher Identifikation und darüber hinaus ein Wirtschaftsfaktor – auch perspektivisch in Hinblick auf die Ansiedlung von neuen Betrieben oder das Anwerben von Fachkräften. Da ist das Theater eine bedeutende Kraft, mit der man wuchern kann.
O&T: In Sachsen-Anhalt gibt es seit etwa einem Jahr einen Kultur-Konvent, der Empfehlungen zur künftigen Kulturentwicklung und Kulturförderung in Sachsen-Anhalt erarbeiten soll. Haben Sie das Gefühl, dass Ihnen dieser Konvent hilft?
Bücker: Nein. Ich halte von dem Kultur-Konvent gar nichts. Bisher sind da keine Ergebnisse zu verzeichnen. Ich halte auch die Zusammensetzung für nicht besonders transparent oder zielführend. Ich weiß, dass man sich von politischer Seite viel davon verspricht, aber ich sehe das im Moment noch nicht. Aber ich würde mich natürlich freuen, wenn viele gute Ergebnisse dabei herauskommen.
O&T: Ihre Spielzeit steht unter dem Motto „Glühende Landschaften“. Was verbirgt sich dahinter – über die politische Anspielung hinaus?
Bücker: Natürlich bezieht es sich auf das wunderbare Kohl-Zitat von den „blühenden Landschaften“. Es gibt ja durchaus blühende Landschaften im Osten. Es ist hier viel passiert, gerade auch in Dessau und seiner Region. Das gibt es durchaus Dinge, die leuchten. In unser Motto sind also mehrere Perspektiven eingeflossen: das Zitat der „blühenden Landschaften“, aber auch das Potenzial, das Leuchten, das tatsächlich von hier ausgehen kann.
O&T: Der Standort Dessau unterscheidet sich von Standorten wie Stuttgart, Berlin oder Leipzig. Welche Rolle spielt ein Theater gerade in einer solchen strukturschwachen Region?
Bücker: Ich glaube, dass es für die Menschen hier vor Ort noch ein bisschen wichtiger ist, weil sie näher dran sind, weil die Stadt intensiver teilnimmt am Theater und das Theater intensiver teilnimmt an dem, was in der Stadt vor sich geht – gerade wenn man sich mit einem vergleichsweise großen Theater in einer eher kleinen Stadt befindet. Dazu kommt die große Tradition des Hauses. Wir sind jetzt in der 217. Spielzeit, die Philharmonie ist 1766 gegründet, das Theater ist in der Stadt unglaublich verwurzelt.
O&T: Welche Rolle können die Kollektive spielen, um diese Identität zu halten und zu stärken?
Bücker: Die Kollektive spielen natürlich immer eine große Rolle. Das sind ja in der Hauptsache Menschen, die hier wohnen, die hier verwurzelt sind, die auch in der Wahrnehmung der Stadt für das Theater stehen. Gerade auch ein Chor mit 175-jähriger Tradition und ein Orchester mit fast 250-jähriger Tradition sind gewachsene Strukturen, mit denen eine besondere Ausstrahlung verbunden ist.
O&T: Wie beurteilen Sie die Zukunft der Theater, gerade auch in den neuen Bundesländern? Da passiert ja viel Beunruhigendes.
Bücker: Ja, aber auch in anderen Regionen, zum Beispiel im Ruhrgebiet, passiert viel Beunruhigendes. Das größte Problem dabei ist die finanzielle Ausstattung der Kommunen. Die Kommunen sind immer noch gezwungen, ihre so genannten freiwilligen Leistungen zu kürzen, wenn sie mit ihrem Haushalt nicht mehr klar kommen. Das ist ein politisches Problem, um das sich auch der Bund kümmern muss. In einer Situation, in der der Bundesfinanzminister die Gewerkschaften auffordert, höhere Tarifabschlüsse durchzusetzen, fängt man gleichzeitig an, noch stärker an der Kultur zu sägen – obwohl es diesem Land ja eigentlich sehr gut geht. Die Bundespolitik müsste die Kommunen in die Lage versetzen, ihre kommunale Selbstverwaltung wieder wahrzunehmen und ihre Haushalte zu gesunden.
O&T: Aber in Dessau haben Sie es geschafft, die Kommune dennoch auf Ihre Seite zu ziehen.
Bücker: Ja, aber man kann so etwas nicht unbedingt auf andere Städte übertragen. Grundsätzlich stellt sich natürlich schon die Frage: Wie geht es weiter mit dem Theater? Die Theater sind da inzwischen extrem flexibel und viel effektiver geworden. Das Beharren auf den Status Quo gibt es schon lange nicht mehr. Das müsste nur auch mal anerkannt werden, gerade vor dem Hintergrund, dass überall im Land Tarifabschlüsse zwischen vier und sechs Prozent vereinbart werden. Und von den Theaterleuten erwartet man immer, dass sie für noch weniger Geld arbeiten. Das ist eine extreme Schieflage.
O&T: Wie sehen Sie die Zukunft in Sachen Haustarifverträge und Gehaltsverzicht? Wird das immer weitergehen – oder ist irgendwann Schluss?
Bücker: Diese Haustarifverträge wurden ja irgendwann einmal als Überbrückung gesehen. Inzwischen sind sie der Status Quo. Das kann eigentlich nicht sein. Kein Theaterleiter will seinen Mitarbeitern Geld vorenthalten. Aber wir müssen immer gucken: Wie können wir noch Theater machen mit dem Geld, das wir haben? Ich glaube im Prinzip, dass Kunst und Kultur nicht abgekoppelt sein dürfen von der tariflichen Entwicklung. Insofern ist die Politik gezwungen, über Dynamisierungen nachzudenken, denn die Haustarifverträge sind nicht mehr zu erfüllen, und der Ausgleich durch Freizeit gelangt in einen Bereich, der absurd ist.
Schlussstein und eine große Prise Hoffnung
André Bücker, Generalintendant des Anhaltischen Theaters Dessau, inszeniert den Ring des Nibelungen - und beginnt mit der Götterdämmerung. Bis 2015 soll der Ring komplett sein.
Seit André Bücker 2009 Intendant in Dessau wurde, ist es sein Wunsch, Wagners größtes Gesamtkunstwerk auf die Bühne zu bringen. Diesen Traum realisiert er gerade - aller Unbill und Kulturinfarktsdebatten zum Trotze. Die Endprobentage vor der Premiere der Götterdämmerung waren intensiv. Etwas ermattet sprüht er dennoch vor zuversichtlicher Energie. Fünfeinhalb Stunden reine Spieldauer und die Vorbereitungen dazu bringen das Vierspartenhaus an seine Grenzen. Über den Mut, den Ring hier auf die Bühne zu bringen, über Dessau als Wagner-Stadt, das „Totale Theater“ bei den Bauhäuslern und Bühnentechnik von 1938, sprachen wir mit ihm. Und auch über Wagner-Fans und lokales Sponsoring in Zeiten der Krise, über Kommunen, die pleite sind, und über das Spielen in der 217. Spielzeit.
Herr Bücker: Der Ring in Dessau - das ist eine ziemliche Rechnung, die Sie hier aufmachen. Wie sieht sie aus und wird sie aufgehen?
Meinen Sie inhaltlich oder finanziell?
Beides - in Zeiten knapper Mittel trauen Sie sich ja einiges.
Ja, ich glaub schon. Als ich hier Intendant wurde, war klar: Dessau ist ein bedeutender Wagner-Ort – und Wagner soll und muss auf dieser Bühne einfach eine Rolle spielen. Es gab ihn zwar immer hier, aber seit 50 Jahren keinen Ring mehr. Dessau hatte in den 50er Jahren den Ruf des „Bayreuth des Nordens“, hier waren unglaubliche Wagner-Festwochen, Ringzyklen. Es war der bedeutendste Wagner-Spielort nach dem Krieg in der DDR - noch vor Leipzig. Bis 1963, die Mauer war gebaut, es gab eine Theaterreform, alles wurde anders. Gastkünstler aus dem Westen zu engagieren war schwierig. Politisch wurde entschieden, dass die Wagnerpflege sich auf Wagners Geburtsort Leipzig zu konzentrieren hätte. Wagner wurde hier zwar weiter gespielt, nur der Ring eben nicht. Als ich Intendant wurde, haben wir ganz programmatisch die erste Spielzeit mit dem Lohengrin eröffnet. Der Ring hat natürlich in den Überlegungen immer schon eine Rolle gespielt. Nur nicht gleich zu Anfang: Wenn man ein Haus nicht kennt und nicht weiß, wie die Kräfte wirken, darf man das nicht machen.
Wie kam es dann jetzt dazu?
Es klärte sich sehr schnell, dass wir ein gutes Ensemble und mit Wagner bereits großen Erfolg haben. So entschieden wir: Wir müssen uns das trauen. Und jetzt haben wir die erste Premiere.
Und Sie rauschen direkt ins Wagner-Jahr 2013 damit.
Wir denken langfristiger: Wir können und wollen es dem Haus nicht zumuten bis 2013, da würde nichts Anderes daneben mehr funktionieren. Deshalb bringen wir die vier Teile bis 2015 heraus. Da ist der internationale Richard Wagner Kongress in Dessau zu Gast, was phantastisch ist! Da zeigen wir den ersten Zyklus und bis dahin in jedem Jahr eine Folge. Das lässt sich im Haus auch gut machen.
Warum fangen Sie, mit der Götterdämmerung, also mit dem Schluss an?
Wo fängt beim Ring was an und wo hört was auf? Gemeinhin macht man natürlich die Reihenfolge ab Rheingold. Wir machen es genau umgekehrt: Götterdämmerung, Siegfried, Walküre, Rheingold, weil Wagner die Erzählung, den Text der Götterdämmerung, zuerst geschrieben hat, da hieß es noch „Siegfrieds Tod“. Er stellte dann fest, dass er die Vorgeschichte eigentlich auch erzählen muss. Komponiert hat er Götterdämmerung zum Schluss, das merkt man auch, denn die Motive verdichten sich darin enorm. Das ist so ein enormer Schlussstein! Mit einer Brise Hoffnung am Ende - das ist zugleich ein schöner Ausgangspunkt, um die Geschichte rückwärts zu erzählen: Auch George Lucas hat es bei Star Wars so gemacht. Das ist also keine ungewöhnliche Technik.
Wie bewältigen Sie dann die einzelnen Teile, die ja jeder für sich schon eine Riesenoper ist, mit den Mitteln und der Infrastruktur hier im Haus?
Das ist natürlich ein riesiges Unterfangen. Was alleine aufgrund der schieren Länge der Oper eigentlich jedes Haus an seine Grenzen führt: Man braucht wesentlich mehr Orchesterproben, Bühnenproben, macht ja auch bühnentechnisch einen wesentlich größeren Aufwand. Man muss anders disponieren.
Wie disponieren Sie?
Im Grunde mit dem Personal, das wir haben, pro Abend ist eine höhere Personalansetzung und Dienstzahl nötig, punktuell arbeiten wir mit Aushilfen. Unsere 78 Orchester-Musiker sind alle beschäftigt an dem Abend. Wir spielen die etwas verkleinerte Fassung, so passen alle in den Graben. Das ist ja das Schöne, dass wir nicht, wie andere Theater, die den Ring machen, die Musiker in irgendwelche Logen setzen müssen.
Wann haben Sie mit Ihrem Bühnenbildner Jan Steigert und dem Entwurf angefangen?
Vor über einem Jahr. Abgabe war letzten September.
Götterdämmerung, der gesamte Ring, hängen ja sehr stark vom Bild ab. Was haben Sie sich überlegt?
Ich wollte eine Art Raummaschine entwerfen, in der das Ganze sich abspielt. Figuren, die erscheinen können, Ebenen, die sich verschieben, Perspektiven, die sich überlagern; gedoppelte Dreidimensionalität über transparente Projektionsflächen, wo durch mehrere Projektionen hindurch die Figuren noch zu sehen sind. Das war ein Ansatz, der uns interessiert hat, der sich an der Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts, der Bauhaus-Ästhetik und klassischen Moderne orientiert, wie etwa dem Licht-Raum-Modulator von Moholy-Nagy. Das Licht ist grundsätzlich extrem aufwendig. Und dass diese Raummaschine in Anlehnung an „Zum Raum wird hier die Zeit“ in Wagners Parsifal auch für den Ring eine Rolle spielt. Wir wollten diesen Mythos, diese Utopie schon sehr groß, sehr archaisch erzählen. Und auf gar keinen Fall irgendeine heutige, alltägliche modernistische Verkleinerung oder Zuspitzung vornehmen, sondern diesen großen Mythos wirklich in starke Bilder packen. Das hat mit dem Bühnenbild zu tun, mit den Kostümen natürlich, der Maske - aber auch mit der Spielweise der Darsteller.
Wie hoch ist das Budget für die Ausstattung?
Das ist schon sehr hoch. Lacht. Aus unserem Etat hätten wir das gar nicht machen können, das muss man ganz klar sagen. Das sprengt alles, was normal ist für so ein Haus.
Frisst es den ganzen Etat auf und können dadurch andere Produktionen nicht gemacht werden?
Nein, natürlich nicht. Wir haben das Geld, das wir zusätzlich brauchten, extern besorgt. Da bin ich wirklich durch die Welt gelaufen und habe Leute von dem Konzept überzeugt - es ist mir glücklicherweise gelungen. Die Ostdeutsche Sparkassenstiftung ist unser Exklusiv-Partner, mit der Sparkasse von hier Vorort. Lotto hat sich als Hauptförderer finanziell beteiligt, dazu noch Sponsoren aus der hiesigen Wirtschaft. Und tatsächlich auch private Spender und Förderer. Das war für Dessauer Verhältnisse wirklich enorm. Ich glaube, in diesen Größenordnungen hat es das noch nicht gegeben.
Da sind wir wieder bei dem Mut, solch ein Ding zu stemmen.
Ja, wir haben gesagt, wenn wir dieses große Werk hier auf dieser Bühne machen, die von ihren Dimensionen her schon gigantisch ist, wollen wir das nicht verkleinert denken, sondern einen großen Entwurf machen. Das ist, glaube ich, gelungen.
Mit der Perspektive auf 2015 - ist das finanzielle Fundament bis dahin gegeben?
Ja. Die Hauptpartnerschaften sind langfristig angelegt, da muss ich keine schlaflosen Nächte haben.
In Zeiten knapper Kassen und Debatten über Kulturinfarkt eher ungewöhnlich. Wie nimmt das das Publikum hier und in der Umgebung auf?
Es ist wirklich ein Wagneraffines Publikum. Dessau hat ja den Ruf als Wagner-Spielstätte, der auch überregional noch einen guten Klang hat. Wir haben das in der Vergangenheit erfahren, und gerade jetzt ist der Zuspruch groß – wie es bei Wagner immer ist – die Wagnerfans reisen ja aus allen Teilen der Republik nach Dessau dafür. Auch aus Berlin, weil es nah ist, aus Leipzig, und natürlich ein großes Einzugsgebiet im Umland. Daraus entsteht unser Publikum. Gerade im Musiktheater ergibt sich eine zahlenmäßig relevante Größenordnung von überregionalen Zuschauern plus Stadt.
Gibt es Zahlen?
Aus dem Umland – mit unserer Besucherring-Organisation – allein kommen 50 000 pro Jahr. Es können aber durchaus mehr sein, da einige mit dem Auto aus Köthen oder Zerbst kommen. Wir haben circa 185 000 Besucher pro Jahr insgesamt, was für eine 88 000 Einwohner-Stadt wirklich ein hervorragender Schnitt ist. Dessau kann ja eine Menge Register ziehen: Bauhaus, Wagner, die ästhetischen Traditionen seit dem 18. Jahrhundert.
Sehen Sie dieses kulturelle Umfeld für Ihr Theater als Inspirationsquelle?
Absolut. Mich hat das immer an den Theatern, wo ich fest oder leitend war, interessiert: Die Wurzeln, die Traditionslinien, die durch den Ort laufen. In Dessau kommt man an Wagner nicht vorbei, aber auch an Weill nicht, an Moses Mendelssohn, am Wörlitzer Gartenreich, an der ganzen Aufklärung. Das sind alles Themen, die es für mich als Theatermacher extrem spannend machen. Es geht immer um Geschichte und Geschichten, diese zu verknüpfen - nicht nur die Historie sondern auch die Gegenwart. Und manchmal auch die Zukunft zu behandeln. An Orten wie Dessau hat man quasi alles, Technik, die Moderne. Ein ziemliches Paradies.
Greifen Sie den Werkstattgedanken auf, der ja auch in Bayreuth eine Rolle spielt?
Ja, der Werkstattgedanke ist eine weitere Überschneidung zwischen Bayreuth und den Bauhäuslern. Wagner hat in seiner Theatervorstellung schon über Projektionen nachgedacht, als die Technik noch gar nicht so weit war. Das „Totale Theater“ bei den Bauhäuslern und das Gesamtkunstwerk bei Wagner, und dann Appia, Gordon Craig, Hellerau, da sind schon viele Verbindungslinien, später bei Wieland Wagner und Neu-Bayreuth in den 50er Jahren, das hatte mit der Klassischen Moderne sehr viel zu tun.
Und der Werkstattgedanke bezüglich Ihres Rings?
Das wird sich sicher weiterentwickeln: Wir haben mit diesem „Schlussstein“, der Götterdämmerung und mit den Bühnenelementen eine Grundkonstruktion von Raum, die sich erweitern wird. Wir spielen nicht alle vier Teile in demselben Bühnenbild. Es wird sich weiterentwickeln, etwas wird dazukommen, anderes weggelassen. Die Elemente werden sich neu zusammensetzen. Wenn wir 2015 mit dem Rheingold abschließen und es dann zur Wiederaufnahme der Götterdämmerung kommt, wird sich das eine oder andere sicherlich noch verändern! Man guckt dann doch noch mal anders auf die Dinge.
Das Anhaltische Theater ist ein Vierspartenhaus und es musste also keine Sparte bluten. Wie hoch ist das jährliche Budget?
Götterdämmerung ist in allen Dimensionen ein gewaltiges Projekt und wir müssen mit enormen finanziellen Zwängen umgehen. Mit Einnahmen sind wir etwas über 17 Millionen Euro. Die Zuwendungen von Stadt und Land sind 15,5. Und das ist für einen 340 Mitarbeiter-Betrieb mit vier Sparten ziemlich wenig. Das muss man ganz deutlich sagen.
Zudem hat es eine große Bühne, die gefüllt werden will.
Eine Riesenbühne. Diesmal konnten wir wirklich ganz andere Maßstäbe anlegen als sonst bei Produktionen. Wir haben hier eine sehr massive Bühnentechnik, die auch noch gut funktioniert. Das Haus wurde 1938 von den Nazis gebaut, die wollten Dessau zur Industriemetropole, vor allem für Rüstungsindustrie zwischen Leipzig und Berlin machen. Die Stadt sollte 500 000 Einwohner bekommen. Da hat man als erstes riesig breite Straßen und ein riesiges Theater gebaut. Das Theater wurde im Krieg beschädigt aber nicht völlig zerstört, dann wieder aufgebaut und relativ schnell instandgesetzt. Seitdem ist es nie generalsaniert worden. Wir fahren hier mit Technik teilweise von 1938. In der Unterbühne sehen Sie wirklich noch die Schilder „Märkische Maschinenfabrik 1938“. Die ist immer instand gehalten worden - auch der Drehscheibenwagen, auf dem Würfel draufsteht, der neun Tonnen-Fels! Ich weiß nicht, ob heute gebaute Drehscheibenwagen diese Last tatsächlich halten würden und damit fahren könnten.
Spielt dieser historische Aspekt eine Rolle in Ihrer Interpretation?
Nein, wir machen ja keinen Kommentar zu Wagners Werk.
Aber es findet in dieser Hülle statt.
Klar, wir denken das natürlich immer mit. Wagners Persönlichkeit und seine schwierigen Schriften spielen in unserm Beiprogramm eine Rolle. Wir stellen uns diesem Themenkomplex und blenden ihn nicht aus, auf gar keinen Fall.
Wenn man bedenkt: erst die Nazis, dann die DDR, schließlich die Wende. Das sind unglaubliche Brüche, nicht nur historisch?
Ja, das sind drei Epochen, politische Systeme, die durch dieses Haus diffundiert sind. Dazu kommt noch die Theatergeschichte von Dessau selbst, die ja viel älter und länger ist, als dieses Bauwerk. 1922 brannte das alte Hoftheater ab, deshalb wurde überhaupt erst dieses Haus gebaut. Die Theater- und Orchestergeschichte beginnt 1766 als Hoforchester, und ein paar Jahre später hat sich die erste feste Schauspieltruppe hier angesiedelt. Wir sind quasi, was das Theaterspielen angeht, in der 217. Spielzeit!
Bezogen auf die heutigen Krisen und finanziellen Debatten eine lange Zeit …
… und im Hinblick darauf kann mir einfach keiner erzählen, dass es heute eine schlimmere Krise ist als jemals zuvor in den letzten 217 Jahren. Das ist einfach Blödsinn. Dass sich jetzt, nach 217 Jahren, die Frage stellt: Geben wir das Theater auf oder nicht. Das ist doch Schwachsinn hoch drei! Das ist einfach auch eine Geschichts- und Verantwortungslosigkeit, und Dummheit! - bekanntermaßen die schlimmste Kombination von allen.
Sie sind im Bühnenverein Mitglied im Vorstand vom Landesverband Ost. Haben Sie Hoffnung, dass sich die Lage in den Kommunen bessert?
Schlimm sind wirklich die Theater in den kleineren oder mittleren Städten dran, wo die Kommunen einfach pleite sind - ein Riesenproblem, das Deutschland nicht in den Griff kriegt: Die kommunalen Finanzen und Haushalte zu stabilisieren, damit die Selbstverwaltung der Gemeinden überhaupt wieder möglich ist. Die Städte und Gemeinden wollen ihre Theater ja nicht zumachen, sind aber durch die Haushaltsgesetzgebung gezwungen, ihre Lebensqualität zu massakrieren! Wenn sie Schulen, Kindergärten, Bibliotheken, Museen und Theater schließen, und Schwimmbäder auch noch, will an den Orten einfach kein Mensch mehr leben. Da muss man sich auch nicht über demographischen Wandel beschweren oder wundern. Der kommt dann nämlich von ganz alleine. Gerade haben wir noch dazu einen neuen Tarifabschluss mit Verdi - 6,3 Prozent für die nächsten zwei Jahre. Das ist eine brachiale Erhöhung, die die Theater vor riesige Probleme stellen wird – und zwar flächendeckend! Und es gibt nirgendwo Dynamisierungen in den Zuwendungsverträgen. Da ist eine Grenze erreicht. Im Moment herrscht noch eine Art Schockstarre, habe ich den Eindruck, aber man wird sich was einfallen lassen müssen, weil alle Konsolidierungsbemühungen - auch die der Städte und Kommunen - sind ad absurdum geführt, wenn sie jetzt auf einmal in solchen Größenordnungen den Leuten mehr Geld zahlen müssen. Also das wird wirklich richtig schwierig! Und ich denke, dass sich der Bund vielleicht auch mal Gedanken darüber machen muss, wie er die Kommunen wieder in die Lage versetzt, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen.
Für ihr Haus machen Sie das. Was wünschen Sie sich für die Götterdämmerung?
Erstmal volles Haus natürlich. Das sieht ganz gut aus. Bei der Premiere sind wir richtig ausverkauft, die anderen Vorstellungen sind auch schon sehr gut verkauft. Und wir wünschen uns natürlich, dass alles gut läuft, weil dieser Apparat, den wir gebaut haben - da kann viel schief gehen. Die Technik macht hervorragende Arbeit, es ist fantastisch, wie die Zusammenarbeit funktioniert. So ein Objekt wie unseren Würfel hat es so noch nie gegeben. Das war eine komplexe Entwicklung da hin - und jetzt ist es ganz toll.
Vielen Dank für das Gespräch.
Viviane Reding informierte sich über die Arbeit des Anhaltischen Theaters
Am Freitag, 29. Juni besuchte die Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, Viviane Reding, das Anhaltische Theater Dessau. Generalintendant André Bücker, Verwaltungsdirektor Friedrich Meyer und Generalmusikdirektor Antony Hermus begrüßten die Kommissarin für Justiz, Grundrechte und Bürgerschaft und informierten Sie bei einer Führung durch das Theater über dessen Arbeit. Viviane Reding zeigte sich sehr beeindruckt von der Größe und den Möglichkeiten dieses traditionsreichen Hauses.
Bundespräsident Joachim Gauck hat am Dienstag, den 26. Juni 2012, die erste kulturelle Soiree seiner Amtszeit im Berliner Schloss Bellevue gegeben. Zu dem von Studierenden der Hochschule für Musik „Franz Liszt“ in Weimar musikalisch gestalteten Abend hatte das Staatsoberhaupt überwiegend Theater- und Musikschaffende aus Mitteldeutschland geladen – darunter den Generalintendanten des Anhaltischen Theaters Dessau, André Bücker, sowie weitere Intendanten aus Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Weitere Gäste waren u. a. die Schriftstellerin Monika Maron, die Weimarer Kunstfestintendantin Nike Wagner sowie der Präsident des Deutschen Bühnenvereins Klaus Zehelein.
In seiner Ansprache hob der Bundespräsident die Vielfalt der deutschen Kulturlandschaft als „prägendes Merkmal unserer Identität“ hervor. „Deutsche Kultur ist eine Kultur aus den Regionen, nicht zuerst eine Kultur der Metropole. Kulturell gesehen können wir sagen: Wir kennen viele Regionen, aber keine Provinz. Das unterscheidet uns von vielen anderen Ländern und das macht einen Reichtum aus, der immer wieder neu zu entdecken ist.“
Corinna Nitz, Mitteldeutsche Zeitung, 14.05.2012
Hanni Becher war 17 als sie in Nürnberg ihre erste Wagner-Oper sah. Es war "Der fliegende Holländer". Am Samstag sitzt sie mit ihrem Mann im Anhaltischen Theater Dessau. Über 50 Jahre hat es dort keine Aufführung vom "Ring des Nibelungen" gegeben. Nun feiern sie die Premiere der "Götterdämmerung", denn Generalintendant André Bücker zäumt das Werk von hinten auf. Die Bechers sind inzwischen über 80 und mit einer größeren Gruppe von Opern-Enthusiasten eigens aus dem fränkischen Münchberg in die Bauhausstadt gekommen. Sie waren schon zweimal in Bayreuth, nun also Dessau. Schon vor dem ersten Akt sagt Heinz Becher: "So Gott will, kommen wir 2013 wieder." In der ersten Pause, da dämmerte es bereits seit fast zwei Stunden, schwärmt Hanni Becher von einer "hervorragenden Inszenierung". Tatsächlich wird auf der Bühne großes Bilderkino entfacht, über das die Münchbergerin sagt: "Es ist modern, aber es passt zum Inhalt."
Haseloff eröffnet Schau
Positive Stimmen sind an diesem Samstagabend allenthalben zu hören, lediglich im Gästebuch, das am Eingang ausgelegt wurde, haben ziemlich zeitnah zwei Besucher ihre Unzufriedenheit über die Inszenierung zum Ausdruck gebracht. (Zwei? Pah!) Es wäre ja auch seltsam, würde es allen gleichermaßen gefallen, wird sinngemäß später in der Nacht Franziska Blech, Sprecherin des Theaters, sagen. Überzeugt von der Inszenierung zeigt sich derweil Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU). Er hat am Nachmittag eine Ausstellung zum Dessauer "Ring" eröffnet. Nach dem ersten Akt steht er mit seiner Frau Gabriele im Foyer und sagt: "André Bücker hat den Reigen hervorragend eröffnet. Er wird nationale Beachtung erzeugen. "
Bekenntnis zum Haus
Angesprochen auf die parallel stattfindende "Ring"-Inszenierung im nahe gelegenen Halle, für die er die Schirmherrschaft ebenso übernommen hat wie für jene in Dessau, sagt Haseloff: "Halle wird seinen eigenen Akzent setzen." Im Übrigen wäre es "politisch nicht nachvollziehbar gewesen zu sagen, einer muss zurücktreten".
Das dürfte inzwischen auch Dessaus Oberbürgermeister Klemens Koschig (parteilos) so sehen. Auch wenn er an diesem Premierensamstag noch einmal an den "Schock" erinnert, den er und andere offenbar erlitten, "als wir erfahren haben, dass Halle auch den ,Ring‘ angeht". Es habe sogar einen Anrufer gegeben, der ihm nahelegte, Bücker die Inszenierung "zu verbieten". Natürlich hat er das nicht getan, umso mehr sieht er nun in diesem "Ring" auch ein "deutliches Bekenntnis der Stadt zum Anhaltischen Theater".
Dazu längst bekannt hat sich Günther Hinsch. Der Vorsitzende des Richard-Wagner-Verbandes Dessau ist ein treuer Theatergänger "von Kindesbeinen an" und natürlich zur Premiere der "Götterdämmerung" gekommen. Er ist begeistert von Bückers Ästhetik, mit der dieser sich an Wieland Wagner anlehne, welcher den "Ring des Nibelungen" in den 1950er Jahren "total entstaubt hat". Ziemlich sicher ist sich Hinsch, dass sie mit der Dessauer Inszenierung auch in Bayreuth reüssieren könnten.Wahre Wunder
André Bücker dürfte das gern hören, die Künstler dito. Kurz vor Mitternacht trudeln sie im Foyer ein, abgeschminkt und in Zivil. Bücker hält eine Rede, bevor es zur Premierenfeier gehen soll. Kurz nach seinem Amtsantritt zur Spielzeit 2009 / 2010 sei die Idee entstanden, in Dessau wieder einen ,Ring‘ zu zeigen. Dass aus dem Wunsch Realität wurde, obwohl "unser Haus ja nicht auf Rosen gebettet ist", sei auch den Unterstützern und Sponsoren zu danken. Bücker dankt noch viel, etwa den Bühnentechnikern, die an diesem Abend wahre Wunder vollbracht haben. Und er würdigt die Leistung seiner Künstler und die des Orchesters von Antony Hermus. Dafür, dass sie fünfeinhalb Stunden im Einsatz waren, wirken sie in der Nacht noch frisch. Die Bechers aus Münchberg sind da schon auf der Rückfahrt. Nächstes Jahr möchten sie wiederkommen. So Gott will.
Patrick Wildermann, Der Tagesspiegel/Sommerkultur, 6. Mai 2012
„Bayreuth des Nordens“ wurde Dessau genannt – und knüpft kritisch an die Wagner-Tradition an. Der „Ring“ wird zum großen, formalen Entwurf
Den klangvollen Beinamen „Bayreuth des Nordens“ hat Dessau sich vor allem in den 1950er Jahren erworben. Mit Wagner-Festwochen und Ring-Zyklen in heute kaum noch vorstellbarer Dimension. Mit der Theaterreform in der DDR anno 1963 war damit allerdings Schluss, und seit einem halben Jahrhundert ist der Ring des Nibelungen in der Bauhaus-Stadt nicht mehr aufgeführt worden. Was der Generalintendant des Anhaltischen Theaters André Bücker nun ändern wird, im vollen Bewusstsein für die spannungsreiche Historie des Werks und seines Hauses.
Die dunkle Seite nicht vergessen
Das Landestheater, das rund 1100 Zuschauer fasst, wurde von den Nazis in Auftrag gegeben und 1938 eingeweiht, in erster Linie als voluminöse Richard-Wagner-Kultstätte. „Die dunkle Geschichte und die Vorzeichen darf man nicht vergessen“, mahnt Bücker. Auf der anderen Seite stammte ein Kurt Weill ebenso aus Dessau wie der Aufklärer Moses Mendelssohn, „es laufen viele Traditionslinien durch diesen Ort“.
Und die eigentliche Wagner-Tradition reicht zurück bis zu den Lebzeiten des Maestros. Der ließ für seinen ersten Ring 1876 auf dem Grünen Hügel 13 handverlesene Musiker der Dessauer Hofkapelle in den Bayreuther Orchestergraben berufen. Der berühmte Hornruf des Siegfried wurde bei seiner Weltpremiere von einem Dessauer geschmettert.
Am Anhaltischen Theater zäumt Bücker den Ring nun von hinten auf und beginnt mit der Götterdämmerung. „Wir zeichnen damit den Werdegang der Entstehung nach“, erklärt der Intendant. Das Libretto zu „Siegfrieds Tod“, wie der große Abgesang ursprünglich noch hieß, schrieb Wagner nämlich zuerst. „Und stellte dann fest“, so sagt Bücker, „dass man die Geschichte detaillierter erzählen muss.“ Daraus erwuchs die Tetralogie mit Rheingold, Walküre, Siegfried und Götterdämmerung.
Dem Dessauer Generalintendanten schwebt mit seinem Ring „ein großer formaler Entwurf“ vor. Um „psychologisches Kleinklein“ bei der Ausdeutung dieses schon tausendfach analysierten und inszenierten Gesamtkunstwerks gehe es ihm nicht, sagt Bücker. Lieber spürt er den Schnittstellen zwischen Wagners Weltentwurf und der künstlerischen Avantgarde des Bauhauses nach. „Von der äußeren Form zum inneren Kern“ wolle er sich vorarbeiten, verspricht der Intendant. Dazu werden ein hochkarätiges Sängerensemble und ein technisch aufwendiges Bühnenbild aufgefahren. In Jahresscheiben wird er seinen Dessauer Ring inszenieren. Und 2015, wenn der internationale Wagner-Kongress in der Stadt tagt, zum ersten Mal den kompletten Zyklus zeigen. „Wir werden uns vor den vielen Ringen, die es gibt, nicht verstecken müssen“, ist Bücker überzeugt. Und betont: „Gerade in krisenhaften Zeiten setzen wir damit ein starkes Zeichen für die Kultur an diesem Ort.“
Corinna Nitz, Mitteldeutsche Zeitung, 03.05.2012
Gegen 17 Uhr streicht Patricia Werner am Mittwoch Iordanka Derilova die letzten Falten aus dem roten Kleid. Die Kammersängerin bleibt regungslos, sie steht da ja nicht "in echt" vor dem Anhaltischen Theater Dessau, sondern ziert vor einer Junkers-Maschine jenes Plakat, mit dem an 120 Stellen in Magdeburg, Halle, Leipzig und Dessau für das große Projekt "Der Ring - Mythos und Utopie" geworben wird. Am Mittwoch ist die Kampagne eröffnet worden. Werner ist von der Ostdeutschen Sparkassenstiftung und mit weiteren Förderern an diesem heißen Tag ins Theater gekommen. Sie wollen der Öffentlichkeit daselbst auch ihre Förderintention erklären, Werner sagt: "Wir glauben an die Macht des Theaters" und unter Hinweis auf andere Inszenierungen von Richard Wagners Monumentalwerk: "Wir fördern das hier nicht zufällig." Weitere Begründungen, warum sie Dessaus "Ring" unterstützen? Dem Vorstand der örtlichen Stadtsparkasse geht es darum, die Attraktivität Dessaus durch Kultur zu steigern. Dass "große Kunst nicht für kleines Geld zu bekommen" ist, bekräftigt Sabine Lichtenfeld von der Lotto-Toto GmbH Sachsen-Anhalt. Mit im Boot der Förderer, über die der Verwaltungschef des Theaters, Friedrich Meyer, sagt, sie finanzieren 50 Prozent der Gesamtkosten, sind neben der Stadt selbst auch die Stadtwerke, der Radiosender SAW, das Autozentrum Beresa und die Ströer Deutsche Städte Medien GmbH. Letztere ermöglicht die großflächige Werbung mit der Kammersängerin. Die ist am Mittwoch nicht mit von der Partie, dafür neben Generalmusikdirektor Antony Hermus auch Generalintendant André Bücker. Er erinnert nicht nur an die Tradition Dessaus als Wagner-Stadt. Sondern er gesteht, dass die Spannung steigt und man mitten in den Proben "im Wagner- und Götterdämmerungsfieber" sei. Unterdessen hofft Sabrina Nußbeck, Bürgermeisterin der Stadt, deren Rat sich kürzlich zum Theater bekannt hat, "dass dieser ,Ring‘ etwas Außergewöhnliches wird, damit an uns in Sachsen-Anhalt niemand vorbeikommt".
VON THOMAS ALTMANN, 08.05.12
DESSAU/MZ. Nur Planeten ohne Atmosphäre kennen keine Dämmerung, jenen Übergang, in dem die Sonne diffuses Restlicht streut, nachdem sie den Horizont querte. Wenn die Götter untergehen, klingt über dem Flammenmeer die Musik versöhnlich, eine "Vision der Erlösung durch die Allmacht der Liebe" bei Entlassung der Menschen aus der Herrschaft der Götter. "Wir werden einen finalen Aussichtspunkt, einen Hoffnungspunkt setzen", sagt André Bücker, ohne hier näheres zu verraten. Im Dienstzimmer des Generalintendanten des Anhaltischen Theaters sieht alles nach Arbeit aus, nach Arbeit, die ihn völlig in Beschlag nehme, die das ganze Haus in eine positive Fiebrigkeit versetzte, Arbeit an der "Götterdämmerung". Bei Wagner habe alles eine andere Dimension, da wache man nachts auf, spänne Fäden zu den Teilen und zum Ganzen, zum "Ring des Nibelungen", zum "Ring in der Bauhausstadt". Ein Zeichen solle für die Zukunft gesetzt werden, "in finanziell schwieriger, aber künstlerisch extrem leistungsfähiger Verfasstheit".
"Wer kann schon sagen, wo bei einem Ring vorn oder hinten ist", fragt Bücker, der mit dem Ende den Anfang setzt und somit doch dem Librettisten Richard Wagner folgt, welcher zuerst die "Götterdämmerung" schrieb und dann, als wollte er das Vergangene aus der Vergangenheit erklären, "Siegfried", "Die Walküre" und "Das Rheingold" nachreichte. Komponiert hat Wagner in umgekehrter Reihenfolge, von Anfang an. Das Ende am Anfang könnte nun an filmische Erzähltechniken erinnern, an die Möglichkeit, die Geschichte aufzufächern, ohne sich permanent auf das Ziel konzentrieren zu müssen?
In der Götterdämmerung flösse alles zusammen, Pathos, Überwältigung, Verdichtung der Motive. "Wir setzen auch formal ästhetisch einen Schlussstein und zeigen dann, wie es sich dahin entwickelte. Siegfried, Walküre und Rheingold werden nicht genau so aussehen. Wir bewegen uns", sagt Bücker, "rückwärts, aber ästhetisch wieder auf die Götterdämmerung zu", mithin auf den Untergang der Welt, der Raum für Neues schaffe. Auch Wotan fällt, ein hadernder Gott, der eine Ordnung schuf, die er aufheben will, aber nicht selber brechen kann und somit einiges in Bewegung setzt.
Aber, theologisieren, politisieren, psychologisieren? "Ich glaube nicht dran", sagt Bücker, "ich glaube, in dieser großen Welterzählung steckt so viel archaisches Potenzial, Potenzial, das man verstehen, verstehbar machen kann. Das trifft die Menschen heute mit genau solcher Wucht, wie das die antiken Dramen können, weil die Konflikte sich nie geändert haben." Auch der Inzestreigen verleite nicht zum Psychologisieren. "Das sind ja keine Kinder der Liebe. Sie haben einen Zweck." Der Inzest führe dazu, "das jemand so ist, wie er ist, das ist sehr interessant konstruiert". Und Alberich der Zwerg, entsagt für den Reichtum der Liebe, "da hat man einen ganzen Kosmos erschaffen", sagt Bücker, rücklings, eine Geste, in den Sessel fallend.
Und Wagner, der Mensch, der Künstler, das Werk, Rezeption und Missbrauch? Das Disparate der Person, das widerliche Pamphlet gegen "Das Judentum in der Musik", das versuche man mitzudenken, "aber letztlich ist der Theaterabend kein Kommentar zum Werk, sondern die Aufführung dieses Werkes in einer gewissen Interpretation", sagt Bücker und: "Das Werk ist in sich so geschlossen, so kraftvoll, dass ich keine neue Deutung' dazu erfinde. Wir versuchen, sehr bildkräftig von der Form in die Tiefe der Konflikte zu gehen." Oskar Schlemmers Figur im Raum, Wsewolod Meyerholds Biomechanik, die Neu-Bayreuther Ästhetik seien in die Konzeption eingeflossen. "Natürlich", so Bücker, "sieht unsere Inszenierung völlig anders aus als Wieland Wagners archaische Bildsprache. Wir haben eine Raummaschine, der Bauhäusler würde sagen, einen Raumapparat entwickelt, der die Konstellation der Figuren sinnfällig macht", in opulenten bewegten Bildern.
LEO GESPRÄCH
Den Göttern dämmertsÜber 50 Jahre ist es her, dass Richard Wagners "Der Ring des Nibelungen" zum letzten Mal vollständig in Dessau zu erleben war. Ab 12. Mai kehrt das Mammutwerk der Operngeschichte, das seit seiner Uraufführung 1876 längst nicht nur Teil der Opern- und Theaterwelt sondern auch der Pop-, Literatur- und Filmgeschichte geworden ist, nun zurück. Warum das Anhaltische Theater den "Ring" von hinten aufrollt, wie die Vorstellungen aussehen sollen und was bis dahin hinter den Kulissen geschieht, wollte LEO von Generalintendant und Regisseur André Bücker erfahren.
"Der Ring des Nibelungen" kehrt nach fast 60 Jahren erstmals vollständig auf die Dessauer Bühne zurück. Wie kam es dazu?
Bücker: Einerseits ist im nächsten Jahr Wagners 200. Geburtstag. Dann gehört Richard Wagner natürlich zur Dessauer Theatergeschichte, sein Werk ist seit seinen Lebzeiten ganz eng mit der Stadt verbunden. Er selbst war öfter hier, hat die Vorstellungen gesehen. Der Dessauer Ballettmeister war sein Co-Regisseur beim ersten „Ring" in Bayreuth, bei dem auch 13 Musiker der Dessauer Hofkapelle gespielt haben. Es gibt viele Anknüpfungspunkte und die Tradition des „Bayreuth des Nordens", vor allem in den 50er Jahren, als Dessau DER Wagner-Spielort der DDR war. Und dann ist Wagner, zwar unter dunklen Vorzeichen in der Nazi-Zeit, eng mit dem Bau dieses Hauses verknüpft. Dieses Haus ist in seinen Dimensionen für das Werk von Wagner gebaut worden. Dann kam noch dazu, dass wir ein deutliches Zeichen setzen wollten. Gerade in Zeiten der Finanzierungsdebatten wollten wir sagen „Hier, guckt Euch an, was dieses Haus stemmen kann“. Also auch die überregionale Wahrnehmung des Theaters, des ganzen Kulturraums Dessau-Anhalt, wollten wir stärken und eine Wirkung erzielen.
Mit der „Götterdämmerung'" feiert am 12. Mai als Erstes der vierte Teil des Opernzyklus Premiere. Warum diese, zumindest auf den ersten Blick, umgekehrte Reihenfolge der Werke?
Bücker: Als Richard Wagner die „Götterdämmerung" schrieb hieß das ganze Werk noch "Siegfrieds Tod", und er hat es zuerst geschrieben. Und dann ist er zu dem Schluss gekommen, die Vorgeschichte muss auch noch erzählt werden. Er hat sich sozusagen von hinten nach vorne geschrieben, und dann von vorne nach hinten komponiert. Mit der „Götterdämmerung", dem großen Finale anzufangen und sich dann zurückzuarbeiten in der Entstehungsgeschichte, ist glaube ich ein ganz interessanter Ansatz. Es wird sicherlich auch den Moment geben, wo wir dann in der „Götterdämmerung" noch etwas verändern, weil wir die anderen Teile sehen. Also kann man sich die „Götterdämmerung" später sicher nochmals angucken, und wird dann Neues entdecken. Der Werkstattgedanke, den es auch in Bayreuth gibt, wird hier sicher auch zum Tragen kommen.
Der Ring soll sowohl in der Tradition des „Bayreuth des Nordens“ stehen als auch die Einflüsse des Bauhauses und der klassischen Moderne auf die Stadt widerspiegeln. Wie wird sich das für das Publikum darstellen?
Bücker: Ich suche immer danach, nicht nur einfach Theater zu machen, sondern auch danach, was Stücke, Inhalte und auch Ästhetiken mit uns hier im Dessau der Gegenwart zu tun haben. Neben der Aufführungstradition gibt es auch Wagner-Verbindungen, die auf andere Kulturtraditionen dieses Ortes verweisen, nämlich auf das Bauhaus und die klassische Moderne. Wenn man die Bayreuther Tradition in den 50er Jahren nimmt - Wieland Wagner, der Bayreuth vom ideologischen Ballast der Nazis befreit hat, mit den Mitteln und inspiriert von den Künstlern der klassischen Moderne. Wenn man das Bühnengeschehen nimmt, kommt man auf Hellerau als experimentelle Theaterform, man kommt auf die russische Avantgarde, auf die Bauhausbühne, zu Schlemmers „Figur im Raum". Es gibt viele Verbindungspunkte, die einen erst nicht klar sind. Die Kollegen vom Bauhaus sagten auch „Wagner? Was hat das denn mit uns zu tun'" und merkten dann, dass es viele interessante Verbindungen und Überschneidungen in den Konzeptionen gibt. Auch um ein Zeichen zu setzen für die Kulturstadt Dessau und diesen Standort haben wir uns gesagt, wir machen den „Ring der Bauhausstadt". Aber wir stellen kein Bauhaustheater nach, sondern wir entwickeln aus einer Formensprache heraus eine heutige Lesart.
Im Internet-Tagebuch zu den Proben gibt es sehr viel Lob für das Ensemble, man erkennt aber auch, wie anstrengend das Projekt ist. Was sind die besonderen Herausforderungen der Inszenierung?
Bücker: Wagners Partitur stellt enorme Anforderungen, vor allen Dingen an die Sänger. Bei den Dimensionen der Bühne und des Zuschauerraums brauchen Sie Sänger mit im wahrsten Sinne des Wortes „großen Stimmen". Und dann ist die schiere Länge eine Riesenherausforderung. Normalerweise haben Opern mit Hauptpartien einige Arien, aber die sind nach drei Stunden, inklusive Pause meistens zu Ende. Wenn man aber die Partien von Brünnhilde oder Siegfried nimmt, das ist die doppelte Länge und auch vom Schwierigkeitsgrad absolut oberstes Level. Und für das Orchester ist es auch eine riesige Aufgabe. Die Aufführung dauert fünfeinhalb Stunden, das ist eine unglaubliche Konzentrationsleistung, die man ohne weiteres mit Hochleistungssport vergleichen kann. Und es stellt natürlich enorme Herausforderungen an die Logistik des ganzen Hauses. Es versetzt alle schon in eine gewisse Anspannung, aber die ist im Moment sehr positiv. Ich hab den Eindruck, dass es die Kollegen auch ziemlich Klasse finden, dass man jetzt auch so was mal anfasst. Das gab es so noch nicht, und das wird in absehbarer Zeit auch nicht mehr kommen. wenn nicht irgendwelche Wunder geschehen. Und manchmal denkt man dann auch: „Wow, was machen wir hier eigentlich?".
Warum sollten sich nicht nur Wagner-Fans die „Götterdämmerung" nicht entgehen lassen?
Bücker: Hier in Dessau ist es wirklich ein absolutes Highlight. Wir merken das auch am Interesse an der Premiere allein, es gibt nur noch sehr wenige Karten und auch die anderen drei Vorstellungen sind schon sehr gut verkauft. Das ist wirklich ein Event, das Identität stiften kann. Und womit wir auch durchaus über die Grenzen Dessaus und der Region hinauszielen. Viele Gäste werden aus Berlin kommen, aus München und allen Teilen der Republik. Und das ist toll für den Standort. Wir haben hier gerade mit „Lohengrin" und dem Ballett „Siegfriedsaga“ viele Leute erreicht, die zu Wagner nie einen Bezug hatten, aber es einfach toll fanden. Und ich glaube, das wird auch für die „Götterdämmerung" und den „Ring" insgesamt gelten. Das entwickelt einen enormen Sog, wo man, wenn man da offen reingeht, sich wirklich fesseln lassen kann und reingezogen wird. Daher denke ich, es sollte jeder, der denkt „Wagner ist nicht meins", es einmal versuchen, denn es ist wirklich etwas Besonderes. Es wird ein überwältigendes Bühnenereignis, musikalisch wie auch szenisch wirklich ganz große Oper.
Peter Korfmacher, Leipziger Volkszeitung, 26.01.2012
André Bücker, Generalintendant des Anhaltischen Theaters in Dessau, inszeniert Wagners Ring
2013 jährt sich zum 100. Mal der Geburtstag Richard Wagners. Für viele Opernhäuser im Land wird damit die Aufführung eines eigenen Ring des Nibelungen zur Pflicht. Auch für Dessau, einst gepriesen als das „Bayreuth des Nordens”. Peter Korfmacher sprach darüber mit André Bücker, dem Generalintendanten des Anhaltischen Theaters Dessau.
Frage: Haben Sie einen Überblick, wie viele neue Ringe es um 2013 herum gibt?
André Bücker: Nein. Aber es sind wohl sehr viele.Warum ist das so?
Weil es, ganz unabhängig vom Wagner-Jahr, so etwas wie die immerwährende Verpflichtung gibt, dieses Werk immer wieder neu zu entdecken. Es ist das Größte, Umfassendste, was das Musiktheater zu bieten hat, bringt Mythos und Utopie, Mensch und Welt zueinander.Die letzte Dessauer Inszenierung liegt mehr als ein halbes Jahrhundert zurück.
Ja, dabei hat es hier nach dem Krieg unter dem Intendanten Willy Bodenstein unglaubliche Festwochen gegeben. Aber irgendwann waren die Ressourcen wohl verbraucht. Dazu kam der Bau der Mauer, was die Arbeit mit Gästen aus dem Westen erschwerte, die DDR-Theaterreform des Jahres 1963, ausbleibende Unterstützung der Regierung. Und meinen Vorgänger Johannes Felsenstein, der 18 Jahre hier Intendant war, hat der Ring anscheinend nicht interessiert.Wo immer ein Ring ansteht, werden Anstrengungen und Schwierigkeiten betont. Worin bestehen die?
Der Aufwand ist immens, schon durch die schiere Länge. Durch die Beanspruchung des Orchesters und die langen Proben besteht die Gefahr, das Haus regelrecht zu blockieren. Auf der anderen Seite ist aber gerade diese Ausnahmesituation wunderbar: Diese Arbeit stiftet Identität, bringt ein kreatives Flirren ins Haus. Und ein solches Großprojekt setzt ein Zeichen gegenüber dem Publikum: Seht her, wir trauen uns auch das zu.Ist das Wagner-Interesse beim Dessauer Publikum stark ausgeprägt? In der Wagnerstadt Leipzig sind einschlägige Vorstellungen derzeit eher mau besucht. Einen Ring hatten wir lange nicht mehr, da fehlen mir also die Vergleichszahlen. Aber ich habe meine Intendanz mit „Lohengrin” eröffnet, damit ein Zeichen gesetzt, dass wir uns der Wagner-Tradition des Hauses stellen. Und bisher ist das Interesse ungebrochen. Dennoch habe ich dem Ring zunächst skeptisch gegenübergestanden.
Warum?
Weil Halle mit seinem schon begonnen hat. Und zwei Ringe innerhalb von 60 Kilometern - da war ein erster Reflex: Das können wir nicht machen.Nun sind es drei Ringe: Leipzig hat sich auch aufgerafft.
Ja - und mittlerweile glaube ich, dass das kein Problem ist. Denn die Wagnerianer werden mit Freuden alle drei mitnehmen, und die anderen nehmen den jeweils ihren. Ich glaube, es ist genug Publikum für alle da. Und die Konzeptionen sind grundverschieden.Wie ist überhaupt die Publikumssituation bei Ihnen?
Kein Grund zum Klagen: In der letzten Saison hatten wir rund 185 000 Besucher. Das ist bei 88 000 Einwohnern ein überdurchschnittlicher Wert. Aber natürlich kommt unser Publikum nicht nur aus Dessau. Wir bedienen ein großes Einzugsgebiet, profitieren von den Kulturtouristen, die das Wörlitzer Gartenreich besuchen oder das Bauhaus.Zurück zum Ring: Was können Sie aus dem Haus besetzen?
Siegfried und Hagen kommen als Gast. Unser A1berich war bis vor kurzem noch fest am Haus. Die restlichen Rollen inklusive Brünnhilde kommen aus dem Ensemble.Was unterscheidet Ihren Ring von den vielen anderen, die uns die Welt zu erklären versuchen?
Das unterscheidet uns schon einmal nicht. Die Welt erklären, das gehört beim Ring des Nibelungen dazu. Darum ging es Wagner schließlich.Was also ist anders?
Wenn man sich mit dem Haus näher beschäftigt, mit seiner Geschichte und mit seiner Identität, ist man schnell beim Ring. Denn dieses wunderbare Theater haben die Nazis hierhin gestellt, um darin Wagner zu spielen. Das muss mitdenken, wer hier Musiktheater macht. Und nichts ist dazu so gut geeignet wie eben der Ring. Den können wir in Beziehung setzen zur anderen ästhetischen Tradition dieser Stadt, zur historischen Avantgarde, zum Bauhaus. Denn das hat sich mit einem ähnlichen Grundproblem auseinandergesetzt wie Wagner: dem Verhältnis von Raum und Zeit.Das klingt ziemlich allumfassend. Ist die Gefahr nicht groß, in die Aufsatzkunst abzurutschen, in selbstreferenzielle Selbstbefragung?
Das denke ich nicht. Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Wir werden kein Bauhaus-Theater machen, keine Dreiecke, Vierecke, Kreise über die Bühne tragen zur Musik Richard Wagners. Unser Ansatz ist modern in dem Sinne, dass er zeitgenössisch ist. Wir erzählen fürs Heute. Aber wir erzählen vor dem Hintergrund einer ästhetischen Tradition. Das halte ich für tragfähiger als diese hausmannspsychologischen Deutungen.Was meinen Sie damit?
Na diese Verkleinerungen. Wenn die Gibichungen in ihrer Wohnküche sitzen und im Morgenmantel die Götterdämmerung verhandeln. Das ist doch nicht gemeint, das verkleinert mit dem Blickwinkel auch das Werk.Apropos Götterdämmerung. Mit der beginnen Sie, also von hinten. Warum?
Wir haben uns für die historische Perspektive entschieden. Also nicht die Chronologie der Geschichte, sondern die der Entstehung. Denn Wagner hat mit der Komposition der Götterdämmerung begonnen und mit dem Rheingold geendet. Und ein Ring ist schließlich rund, hat also weder Anfang noch Ende.Bei keinem anderen Komponisten weiß ein Teil des Publikums so gut Bescheid. Ist das für Ihr Konzept wichtig?
Ich denke, dass eine Theaterarbeit sich aus sich selbst heraus erschließen muss. Natürlich arbeiten wir auch mit dem Publikum, machen keine Vorstellung ohne Einführung. Aber das sollte dazu dienen, den Eindruck zu vertiefen - nicht ihn zu ermöglichen. Es ist eine sehr deutsche Sehnsucht, dieser Wunsch: Ich möchte alles verstehen. Und wenn ich etwas nicht verstanden habe, dann taugt entweder der Gegenstand nichts, oder ich bin zu dumm dafür. Was für ein Unsinn. Gerade das Unverständnis, das Ahnen, das Geheimnis macht einen entscheidenden Reiz von Theater aus.Wagner ist nicht der einzige Großjubilar 2013 - tun Sie was für Verdi?
Wir eröffnen die Saison mit Aida.Auf Italienisch?
Natürlich!
Pressemitteilung vom 17.11.2011
Alljährlich wartet die Opernwelt mit Spannung auf die Kritikerumfrage im Jahrbuch der Zeitschrift „Opernwelt”. Im Oktober erschienenen Jahrbuch 2011 mit der wohl wichtigsten deutschlandweiten Kritikerumfrage für das Musiktheater erhielt das Anhaltische Theater Dessau insgesamt 9 Nominierungen und schnitt damit hervorragend ab. In der Kategorie Wiederentdeckung wird Generalintendant André Bückers Inszenierung genannt, der mit Weills „Der Protagonist“ beim Kurt Weill Fest erstaunliche Parallelen zu Leoncavallos „Bajazzo“ entdeckt. Gleich zweimal nominiert wird Generalmusikdirektor Antony Hermus, der in weniger als drei Jahren aus der Anhaltischen Philharmonie Dessau ein schlagkräftiges Orchester geformt hat und als Dirigent genannt wird für seine grandiose Aufbauleistung am Anhaltischen Theater. Das Theater erhielt eine Nominierung als „bestes Opernhaus des Jahres“. Benannt wird ausdrücklich auch der Chor des Anhaltischen Theaters unter der Leitung von Helmut Sonne. Über individuelle Nominierungen als „Sänger des Jahres“ bzw. „Nachwuchssänger des Jahres“ können sich Pavel Shmulevich als Dossifei in „Chowanschtschina“ und die Mezzosopranistin Ulrike Meyer als Dorabella in „Così fan tutte“ freuen. Weitere Nennungen erhielten Andrea Moses mit Mussorgskys „Chowanschtschina“ sowie die vereinigten Chöre von Weimar und Dessau ebenfalls in der Inszenierung „Chowanschtschina“. Die große und klanggewaltige Choroper “Chowanschtschina” unter Mitwirkung der Opernchöre von Weimar und Dessau ist in Dessau nur noch zwei Mal zu erleben, bevor die Inszenierung an das Deutsche Nationaltheater Weimar geht (Vorstellungen am: 30. Oktober und am 27. November jeweils um 16 Uhr, Anhaltisches Theater/Großes Haus). “Chowanschtschina” ist eine Kooperation mit dem Deutschen Nationaltheater Weimar, unterstützt durch die Staatsoper Stuttgart. Die Oper steckt voller musikalischer und szenischer Überraschungen und ist mit hauseigenen Solisten und Gästen des Nationaltheaters Weimar besetzt. „Chowanschtschina“ verknüpft historische Ereignisse aus der Geschichte Russlands mit einer hochdramatischen Liebesgeschichte. Die Anhaltische Philharmonie musiziert unter der Leitung von Generalmusikdirektor Antony Hermus.
Sie beschreiben in Ihrem Stück „Regina oder die Eichhörnchen-Küsse“ eine Forschergruppe, die Gehorsam und Anpassung als ansteckende Krankheit bezeichnet und bestimmte Bakterien dafür verantwortlich macht. In dem Stück „Dr. med. Hiob Praetorius“ von Curt Goetz jagt ein Mediziner die Mikrobe der Dummheit. Zum Schluss stirbt er bei einem Unfall lachend, weil er vermuten muss, dass er zu dumm ist, die Mikrobe zu entdecken. Sowohl Goetz als auch Sie misstrauen offenbar einer menschlichen Einsichtsfähigkeit, die ohne entsprechende Medikamente zur Selbstkorrektur führen könnte?
Ich misstraue nicht dem Erkennenkönnen oder der Intelligenz der Leute. Die Menschen sind viel klüger als ihre Verhältnisse. Diese gehören geändert – ich glaube also auch nicht, wie etwa Goetz, dass Dummheit eine Naturkonstante ist oder angeborene menschliche Schwächen an menschlichem Elend allein schuld sind. Das Stück sagt: Ihr wisst doch so viel, wollt ihr da nicht ein bisschen großzügiger zueinander sein?
Wenn es möglich wäre, mit solchen Therapien Gehorsam, Anpassung und vielleicht auch Dummheit zu beseitigen, dann würden sich die Menschen eventuell in einem existenziellen Freiraum bewegen, der sie ängstigt. Ist das der Grund, weshalb der Therapeut Hartmut Uhlich so aggressiv gegen die Ziele des Projekts vorgeht? Oder plagen ihn doch nur Eifersucht und Neid, weil die Teamleiterin Regina Jordis als Wissenschaftlerin brillant ist und sie ihm außerdem die Freundin ausgespannt hat?
Hartmut hat Angst vor Veränderungen, weil er glaubt, dass es nur schlimmer werden kann, wenn es anders wird. Das ist ein Haftfolgeschaden: Der Knast, der sein Kopf ist, hat ihn so kaputtgemacht, dass er sich Freiheit gar nicht mehr vorstellen kann. Das Schlimme daran: Weil er sehr klug ist, kann er seine Angst darlegen, als wäre sie ein intelligentes Argument statt ein zerstörerisches Gefühl. Er ist eine tragische Figur, und hat sogar ein bisschen recht.
Zeigt sich in Hartmuts Verhalten eine strikte Abneigung gegen die von Sören Kierkegaards formulierte Forderung, dass der Mensch sein Leben durch sich selbst führen müsse?
Niemand lebt durch sich selbst. Schon dass wir denken können, setzt Begriffe und Sprache voraus, und die lernen wir von andern. Individuum und Gesellschaft erzeugen einander: Die Gesellschaft ist aus Individuen gemacht, das Individuum aber kann nur frei sein, wenn die andern ihm helfen, nicht völlig abhängig zu sein von der Natur (gejagte oder hungernde Tiere sind nicht individuell, sondern Kreaturen in Not). Daß Freiheit und Solidarität, Individualismus und Gerechtigkeit zusammengehören, können aber die unfreien Individuen in falschen Gesellschaften nicht erkennen. Deshalb hassen sie die Freiheit, also das Individuum, ebenso sehr wie die Gemeinschaft, also die Solidarität. Das aber quält sie, weil sie ja auch nur Menschen sind, die nicht so elend leben wollen, im Haß. Aus dieser Qual heraus werden sie gemein. Ein Teufelskreis.
Alle Mitwirkende sind, beinahe schon zwanghaft, in die Vorgänge verstrickt. Bestehen da emotionale Abhängigkeiten, die in der gelebten Praxis das ganze Forschungsprojekt ad absurdum führen?
Alles, das nützt, kann auch schaden: Man kann mit dem Skalpell heilen und verletzen. Dasselbe gilt für die Liebe. Sie könnte den Leuten im Stück helfen, frei zu sein, aber einige verheddern sich darin und werden noch unfreier.
Wenn Gehorsam und Anpassung aus dieser Welt verschwinden würden, könnte dann unter anderen Voraussetzungen ein neues Wir-Gefühl entstehen?
Das hat man doch selbst schon oft genug erlebt: Jede neue Freundschaft ist so, jede neue Liebe, jede gelungene Zusammenarbeit. Die Frage ist: Warum diese kleinen Richtigkeiten nicht als Modell nehmen fürs Ganze des Sozialen? Warum nicht das Risiko der Freundlichkeit, Gerechtigkeit, des Anstands eingehen? Das ist besser als Horde, Herde, Rotte, Uniform, Befehl und Gehorsam.
Kommen wir in unserem Leben ohne spezielle Dressuren überhaupt zurecht? Bieten sie uns nicht die Haltegriffe einer Lebensform, die wir hartnäckig verteidigen. Oder sympathisieren Sie mit Nietzsches Umwertung aller Werte?
Nietzsche war ein armer Hund mit ein paar richtigen Ahnungen. Aber die „Herrenmoral“, die er gepredigt hat, ist bloß die Umkehrung der „Sklavenmoral“ die er haßte, und manchmal ergibt die Umkehrung von Quatsch nur neuen Quatsch. Ohne Regeln und Training und Formen geht es nicht, das ist klar. Aber man sollte nur solche akzeptieren, die sich ändern lassen, auf Beschluß der Betroffenen. Also nicht „Umwertung aller Werte“, aber: Umwertbarkeit aller Werte.
Ihr Stück bewegt sich an den Rändern sozialer Utopien. Einlösbar sind die mit Hilfe der Medizin gewiss nicht. Hoffen Sie auf eine andere irdische „Erlösung“ des Menschen, diesem „vernunftbegabten“ Wesen?
Hoffen macht traurig. Ich schlage vor, das, was man weiß, auch umzusetzen. Das richtige Leben ist keine Erlösungsfrage, es geht um Praxis, die aus neuen Lösungen neue Probleme schafft. Es geht darum: Wenn wir einander nicht helfen, wird’s finster. Anführungszeichen bei „vernunftbegabt“ mag ich nicht; ich finde, die Menschen sind von ihren Religionen, Philosophien und Vorschriften allmählich genug verleumdet worden. Sie sind vernunftfähig, sonst könnten sie gerade daran ja nicht einmal zweifeln.
Eine konstruktive Solidarität jedenfalls gibt es in dem Stück, falls ich das richtig interpretiere, eher bei den Frauen als bei den Männern. Deren Solidarität gilt allein dem gemeinsamen weiblichen Feindbild.
Die Frauen im Stück denken weniger nach Gebietsansprüchen und mehr entlang den Sachen selbst, sie sind neugieriger darauf, was denn nun stimmt und was nicht. Ob das immer und überall so ist, weiß ich nicht; in den naturwissenschaftlichen Bereichen, in denen ich recherchiert habe, sah es so aus.
Gegen Ende des Stückes, wenn alles vorbei ist, spricht Regina davon, dass sie Mannheim vermissen werde. Meint sie damit nur das „Zentrum für biologische Verhaltensforschung“? Oder verbirgt sich hinter ihren freundlichen Worten eine kleine Liebeserklärung des Autors Dietmar Dath an die Quadratestadt?
Diese Stadt und einige ihrer Leute haben mir viel Glück gebracht, mich auf schöne Arten herausgefordert, ich nehme an, das findet man im Spiel wieder. Ich mag Mannheim.
Sie beschreiben in Ihrem Stück „Regina oder die Eichhörnchen-Küsse“ eine Forschergruppe, die Gehorsam und Anpassung als ansteckende Krankheit bezeichnet und bestimmte Bakterien dafür verantwortlich macht. In dem Stück „Dr. med. Hiob Praetorius“ von Curt Goetz jagt ein Mediziner die Mikrobe der Dummheit. Zum Schluss stirbt er bei einem Unfall lachend, weil er vermuten muss, dass er zu dumm ist, die Mikrobe zu entdecken. Sowohl Goetz als auch Sie misstrauen offenbar einer menschlichen Einsichtsfähigkeit, die ohne entsprechende Medikamente zur Selbstkorrektur führen könnte?
Ich misstraue nicht dem Erkennenkönnen oder der Intelligenz der Leute. Die Menschen sind viel klüger als ihre Verhältnisse. Diese gehören geändert – ich glaube also auch nicht, wie etwa Goetz, dass Dummheit eine Naturkonstante ist oder angeborene menschliche Schwächen an menschlichem Elend allein schuld sind. Das Stück sagt: Ihr wisst doch so viel, wollt ihr da nicht ein bisschen großzügiger zueinander sein?
Wenn es möglich wäre, mit solchen Therapien Gehorsam, Anpassung und vielleicht auch Dummheit zu beseitigen, dann würden sich die Menschen eventuell in einem existenziellen Freiraum bewegen, der sie ängstigt. Ist das der Grund, weshalb der Therapeut Hartmut Uhlich so aggressiv gegen die Ziele des Projekts vorgeht? Oder plagen ihn doch nur Eifersucht und Neid, weil die Teamleiterin Regina Jordis als Wissenschaftlerin brillant ist und sie ihm außerdem die Freundin ausgespannt hat?
Hartmut hat Angst vor Veränderungen, weil er glaubt, dass es nur schlimmer werden kann, wenn es anders wird. Das ist ein Haftfolgeschaden: Der Knast, der sein Kopf ist, hat ihn so kaputtgemacht, dass er sich Freiheit gar nicht mehr vorstellen kann. Das Schlimme daran: Weil er sehr klug ist, kann er seine Angst darlegen, als wäre sie ein intelligentes Argument statt ein zerstörerisches Gefühl. Er ist eine tragische Figur, und hat sogar ein bisschen recht.
Zeigt sich in Hartmuts Verhalten eine strikte Abneigung gegen die von Sören Kierkegaards formulierte Forderung, dass der Mensch sein Leben durch sich selbst führen müsse?
Niemand lebt durch sich selbst. Schon dass wir denken können, setzt Begriffe und Sprache voraus, und die lernen wir von andern. Individuum und Gesellschaft erzeugen einander: Die Gesellschaft ist aus Individuen gemacht, das Individuum aber kann nur frei sein, wenn die andern ihm helfen, nicht völlig abhängig zu sein von der Natur (gejagte oder hungernde Tiere sind nicht individuell, sondern Kreaturen in Not). Daß Freiheit und Solidarität, Individualismus und Gerechtigkeit zusammengehören, können aber die unfreien Individuen in falschen Gesellschaften nicht erkennen. Deshalb hassen sie die Freiheit, also das Individuum, ebenso sehr wie die Gemeinschaft, also die Solidarität. Das aber quält sie, weil sie ja auch nur Menschen sind, die nicht so elend leben wollen, im Haß. Aus dieser Qual heraus werden sie gemein. Ein Teufelskreis.
Alle Mitwirkende sind, beinahe schon zwanghaft, in die Vorgänge verstrickt. Bestehen da emotionale Abhängigkeiten, die in der gelebten Praxis das ganze Forschungsprojekt ad absurdum führen?
Alles, das nützt, kann auch schaden: Man kann mit dem Skalpell heilen und verletzen. Dasselbe gilt für die Liebe. Sie könnte den Leuten im Stück helfen, frei zu sein, aber einige verheddern sich darin und werden noch unfreier.
Wenn Gehorsam und Anpassung aus dieser Welt verschwinden würden, könnte dann unter anderen Voraussetzungen ein neues Wir-Gefühl entstehen?
Das hat man doch selbst schon oft genug erlebt: Jede neue Freundschaft ist so, jede neue Liebe, jede gelungene Zusammenarbeit. Die Frage ist: Warum diese kleinen Richtigkeiten nicht als Modell nehmen fürs Ganze des Sozialen? Warum nicht das Risiko der Freundlichkeit, Gerechtigkeit, des Anstands eingehen? Das ist besser als Horde, Herde, Rotte, Uniform, Befehl und Gehorsam.
Kommen wir in unserem Leben ohne spezielle Dressuren überhaupt zurecht? Bieten sie uns nicht die Haltegriffe einer Lebensform, die wir hartnäckig verteidigen. Oder sympathisieren Sie mit Nietzsches Umwertung aller Werte?
Nietzsche war ein armer Hund mit ein paar richtigen Ahnungen. Aber die „Herrenmoral“, die er gepredigt hat, ist bloß die Umkehrung der „Sklavenmoral“ die er haßte, und manchmal ergibt die Umkehrung von Quatsch nur neuen Quatsch. Ohne Regeln und Training und Formen geht es nicht, das ist klar. Aber man sollte nur solche akzeptieren, die sich ändern lassen, auf Beschluß der Betroffenen. Also nicht „Umwertung aller Werte“, aber: Umwertbarkeit aller Werte.
Ihr Stück bewegt sich an den Rändern sozialer Utopien. Einlösbar sind die mit Hilfe der Medizin gewiss nicht. Hoffen Sie auf eine andere irdische „Erlösung“ des Menschen, diesem „vernunftbegabten“ Wesen?
Hoffen macht traurig. Ich schlage vor, das, was man weiß, auch umzusetzen. Das richtige Leben ist keine Erlösungsfrage, es geht um Praxis, die aus neuen Lösungen neue Probleme schafft. Es geht darum: Wenn wir einander nicht helfen, wird’s finster. Anführungszeichen bei „vernunftbegabt“ mag ich nicht; ich finde, die Menschen sind von ihren Religionen, Philosophien und Vorschriften allmählich genug verleumdet worden. Sie sind vernunftfähig, sonst könnten sie gerade daran ja nicht einmal zweifeln.
Eine konstruktive Solidarität jedenfalls gibt es in dem Stück, falls ich das richtig interpretiere, eher bei den Frauen als bei den Männern. Deren Solidarität gilt allein dem gemeinsamen weiblichen Feindbild.
Die Frauen im Stück denken weniger nach Gebietsansprüchen und mehr entlang den Sachen selbst, sie sind neugieriger darauf, was denn nun stimmt und was nicht. Ob das immer und überall so ist, weiß ich nicht; in den naturwissenschaftlichen Bereichen, in denen ich recherchiert habe, sah es so aus.
Gegen Ende des Stückes, wenn alles vorbei ist, spricht Regina davon, dass sie Mannheim vermissen werde. Meint sie damit nur das „Zentrum für biologische Verhaltensforschung“? Oder verbirgt sich hinter ihren freundlichen Worten eine kleine Liebeserklärung des Autors Dietmar Dath an die Quadratestadt?
Diese Stadt und einige ihrer Leute haben mir viel Glück gebracht, mich auf schöne Arten herausgefordert, ich nehme an, das findet man im Spiel wieder. Ich mag Mannheim.
Für einen Text im Vorfeld der UA „Regina“ am Nationaltheater Erscheint in der RHEINPFALZ in Ludwigshafen, der Stadt, in der Bloch Pfeife rauchte und Tocotronic ein sonderbares Konzert gaben.
Warum interessieren Sie sich so sehr für die Zukunft der Menschheit?
Weil ich glaube, dass da noch was zu machen ist.
In ihrem Roman „Die Abschaffung der Arten“ sind die Menschen von Sprechenden Tieren abgelöst. Ist die Lage so ernst?
Bei Walt Disney sind die Menschen auch oft von sprechenden Tieren abgelöst. Dazu muß die Lage nicht ernst sein. Es ist ein Gedankenexperiment, die sind vorläufig noch erlaubt.
In Ihrem Theaterstück „Regina oder Die Eichhörnchenküsse“ gibt es noch mehr Hoffnung. Den Menschen droht nur der Verlust ihrer sozialen Fähigkeiten. Sind sie optimistischer geworden?
Ich bin weder optimistisch, noch pessimistisch, noch realistisch. Ich bin verliebt. Das tut schöner weh. Der Verlust der sozialen Fähigkeiten droht immer, man nennt das Feigheit, Faulheit oder Dummheit.
Ihre Texte beeindrucken meist mit viel Technik- und Wissenschaftsjargon. In „Waffenwetter“ fummelte eine riesige Antennenanlage in den Gedanken Der Menschen herum, in „Regina“ geht es um Bakterien, Computerprogramme Und psychologische Forschung. Was ist daran so spannend?
Spannend ist nichts, für sich genommen. Technik und Wissenschaft haben da, sagen wir, irgendeinem Alltag auf dem Wochenmarkt nichts voraus. Aber den kenne ich nicht, das Wissenschaftsmaterial dagegen schon, aus dem persönlichen Umfeld, der Vita etc. – also mache ich, was ich machen will, nämlich von Menschen erzählen, an diesem Material.
Während in ihrem Roman „Die Abschaffung der Arten“ Kontinente und Jahrhunderte nur so vorbeifliegen, bleiben Ihre Stücke Doch eher im kleinen Kreis, in „Regina“ ist der Kern des Stücks eine Eifersuchtsgeschichte. Ist das nun die menschliche Pointe des großen Menschheitsdramas?
Ich glaube nicht, dass die Eifersuchtsgeschichte der Kern ist. Das glaubt nur der tragische Bösewicht selbst. Menschen verwechseln ihre Angst vor Veränderung oft mit Haß und Wut, dann werden sie böse. Davon handelt das Stück, im Privaten wie im Wissenschaftlichen wie im Gesellschaftlichen.
Warum gibt es in dem Stück einen toten Jungen, der spricht, und ein Ausgestopftes Eichhörnchen, mit dem sich alle unterhalten? Als Theaterfiguren sind die beiden ja eher ungünstig?
Ich will zeigen, dass für das Menschenleben nicht nur belangvoll ist, was Leute tun und sagen, sondern auch, was sie sich dabei denken; also unsichtbare Gesprächspartner so gut wie reale. Auch der liebe Gott ist keine gute Theaterfigur, und trotzdem gibt es hervorragende Stücke über gläubige Menschen.
Was interessiert Sie an der dramatischen Form? Wäre Film nicht das Bessere Medium für Ihre Themen?
Beim Film kann man, was spontan gelingt oder schiefgeht, eliminieren, durch Schnitt und wiederholtes Drehen. Beim Theater können alle davon lernen, auf der Bühne und davor.
Wollen Sie weitere Texte fürs Theater schreiben? An welchen Texten Arbeiten Sie ansonsten zurzeit?
Wenn das Theater Texte haben will, schreibe ich weitere. Im Moment sitze ich an drei Sachen, die noch nicht wissen, wer sie sein wollen.
Ihr erstes Stück fürs Nationaltheater, die Bearbeitung von „Waffenwetter“, war Eine ziemlich unterhaltsame, meistens lustige Angelegenheit. War das für Sie okay?
Selbstverständlich. Langweilen oder deprimieren lassen kann ich mich auch woanders. Und so lustig war die Totenklage über den Großvater auch wieder nicht. Dafür würdig, schön, tief, unkitschig. Die Mannheimer können das.
MEYER, September 2011
von Frank Barsch
meier: Wenn ich das richtig überblicke ist „Regina oder die Eichhörnchenküsse“ Ihr erstes Theaterstück. Sie haben Gedichte, Essays und Romane geschrieben. Davon wurden „Die Abschaffung der Arten“ in Mainz dramatisiert und „Waffenwetter“ hier in Mannheim. Also, warum jetzt ein Theaterstück? Wahrscheinlich hätte doch auch Ihr nächster Roman den Weg auf die Bühne gefunden.
Dietmar Dath: Ich glaube, daß literarische Gattungen nicht grundlos verschieden sind. Man kann auch ein Gedicht aufführen, aber ein Stück ist vielleicht geeigneter. Andererseits war das Mannheimer „Waffenwetter“ für mich so anrührend, daß ich dachte: Die wissen hier wirklich, was ein Stück ist, selbst wenn ich das Stück beim Schreiben in einem Roman versteckt habe. Daraus wurden dann zwei Stücke, die einander ergänzen sollten, eins für Berlin und eins für Mannheim. Die Berliner haben es verbockt, das wurde nie aufgeführt. Mannheim schafft es.
meier: In „Regina oder die Eichhörnchenküsse“ geht es wie in „Waffenwetter“ wieder um Wissenschaft und Technologie, verknüpft mit den Fragen nach freiem Denken und Sprechen, Anpassung und Gehorsam. Welchen Zusammenhang sehen Sie zwischen diesen Bereichen (Erkenntnis, Interesse und Macht)? Warum diese Themen? Wir leben doch in einer Welt die individualistisch ist wie noch nie.
Dietmar Dath: Wenn alle verschiedene Uniformen tragen, die sie sich beim Einkaufen selbst zusammenstellen dürfen, ist das noch kein Individualismus. Freiheit heißt auch Freiheit von Angst, und daß ein Killerroboter wie dieser Typ in Norwegen ein Individuum ist, würde ich bestreiten. Die meisten Leute wissen heute mehr als im Hochmittelalter, aber sie haben (im doppelten Sinn) nichts zu sagen – die Freiheit ist reduziert auf Konsum, Facebook-Mitmach-Schattenboxen und Träume vom Sieg bei der Castingshow. Wirklich selbstbewußte Leute wären auch fähig, untereinander solidarisch zu sein, empathiefähig, liebesfähig. Die Natur scheint verstanden zu sein, aber die zweite Natur – das Soziale – präsentiert sich als undurchschaubar. Dagegen redet und lebt Regina.
meier: Sie bauen in Ihre Geschichten ausführliche, nicht immer ganz einfache Diskurse ein. Wollen Sie Ihre Leser zum Nach- oder Mitdenken zwingen?
Dietmar Dath: Das wäre klebriges Lehrergehabe. Sie denken sowieso und wissen auch nicht weniger als ich, nur andere Sachen. Was ich anbiete, ist eine Art Uhrenvergleich: So sieht die Welt von mir her aus, wie ist sie denn für euch?
meier: Was ist denn anders, wenn man ein Drama schreibt. Dietmar Dath: Man muß sich mehr Mühe geben, auch die Gegenseite zur eigenen Position spielbar, interessant, stark zu machen, gleichwertig, während man einen Roman einfach in Ich-Form schreiben kann. Der Schurke im Stück ist mir sympathischer als alle Schurken in allen anderen Texten von mir. Allerdings nicht sympathischer als die Heldin, klar.
meier: Das Mannheimer Nationaltheater hat ihren Roman „Waffenwetter“ adaptiert und unter der Regie von André Bücker 2009 auf die Bühne gebracht. Bücker führt auch bei diesem Stück die Regie. Hat die Art und Weise, wie er „Waffenwetter“ inszeniert hat, die Arbeit an dem Stück beeinflusst? Ändert ich beim Schreiben etwas, wenn man einige der Schauspieler und Schauspielerinnen, die später auftreten werden, schon einmal bei der Umsetzung eines eigenen Werks gesehen hat?
Dietmar Dath: Ja, das ist etwas Neues. In Mannheim damals hat mich das umgeworfen, wie nah am Stoff gespielt wurde, wie mutig auch die unangenehmen emotionalen Sachen nach vorne gebracht wurden, von der Regie wie den Leuten auf der Bühne. Die Liebe. Die Trauer. Ich habe beim Schreiben also versucht, dem gerecht zu werden - etwas zu machen, das gut genug ist für diese Schauspielerinnen und Schauspieler, die dann für mich aus der Deckung gehen, sich nicht hinterm Text verschanzen können wie ich, und diesen Regisseur, der in „Waffenwetter“ Sachen gesehen hat, die mir selber nicht klar gewesen waren.
meier: Sie haben Sich ausführlich mit Drastik und Deutlichkeit in der Kunst beschäftigt. Das Theater bietet durch seine Unmittelbarkeit eine ganze Palette von Möglichkeiten zu schockieren. Auf wieviel Drastik (bzw. Deutlichkeit) müssen sich die Zuschauer denn einstellen?
Dietmar Dath: Gemetzel gibt es nicht, aber Formen von Arglist, die an die Nieren gehen. Und ein, zweimal sieht man das ungeschützte Herz von Menschen, was eventuell viel riskanter ist als Leute nackt auf der Bühne sich in Kunstblut wälzen zu lassen.
von Dietmar Dath
I. Dramenformen
Ich mag Fragen, denen man ansieht, daß sie wertvoller sind als jede Antwort, die sich darauf finden ließe. Eine davon lautet: Wie beobachtet die Verhaltensforschung das Verhalten von Tierarten, deren Individuen sich nicht nur über Sachverhalte der Außenwelt (wie etwa das Verhalten anderer Individuen derselben Spezies), sondern sogar über ihre eigenen Empfindungen, Motive und Instinkte irren können?
Um mit dieser Frage zu spielen, wollte ich zunächst eine Boulevardkomödie schreiben, zu der mich ein Bekannter angeregt hatte, dem etwas Lustiges und zugleich Unheimliches passiert war. Als sich herausstellte, daß seine Geschichte zuwenig dramatisches Potential barg und eher eine besinnliche Erzählung hätte füttern können, ließ ich sie sausen. Danach nahm ich mir vor, eine Tragödie zu schreiben, zu der mich eine Bekannte angeregt hatte, der etwas sehr Trauriges und zugleich Schönes passiert war. Als sich herausstellte, daß auch ihre Geschichte zuwenig dramatisches Potential barg und eher ein elegisches Gedicht hätte füttern können, gab ich sie ebenfalls auf.
Stattdessen schrieb ich zwei Stücke, eins für Berlin und eins für Mannheim.
Das für Berlin wurde eine deprimierende Boulevardkomödie, das für Mannheim eine heitere Tragödie. Im Berliner Stück („Annika Oder Wir sind nichts“) ging es scheinbar um aktuelle Arbeitsverhältnisse und deren politische Kritik, in Wahrheit aber um ein verhaltensbiologisches Experiment betreffend das Problem, ob Kooperation unter Besserwissern möglich ist, also: Ob auch Leute, die sich mit Kunst und Politik und Kritik viel zu gut auskennen, um noch die Naivität aufzubringen, die man Tatkraft nennt, trotzdem etwas gemeinsam auf die Beine stellen können. Der Bescheid war lehrreich: Sie schafften es nicht. „Annika“ blieb unaufgeführt, es gab nur ein paar szenische Lesungen (Theaterdeutsch für: Trostpreis). Im Mannheimer Stück („Regina Oder Die Eichhörnchenküsse“) geht es scheinbar um ein verhaltensbiologisches Experiment betreffend das Problem, ob Kooperation unter Besserwissern möglich ist, also: Ob auch Leute, die sich mit Biologie und Evolution und Neurochemie viel zu gut auskennen, um noch die Naivität aufzubringen, die man Tatkraft nennt, trotzdem etwas gemeinsam auf die Beine stellen können, in Wahrheit aber um aktuelle Arbeitsverhältnisse und deren politische Kritik. Der Bescheid ist lehrreich: Ich war vor ein paar Tagen in Mannheim auf einer Probe und habe gestaunt, war bewegt und beglückt, denn diese Schauspielerinnen und Schauspieler wissen viel mehr darüber, was meine Figuren tun, wollen und aus sich machen, als ich hätte aufschreiben können; teilweise sogar mehr, als ich auf jede andere Art als die dramatische jemals herausbekommen hätte, inklusive Psychoanalyse, Genomzerlegung und Kontoauszugkontrolle.
Die These des Berliner Stücks lautetete: Wer nicht solidarisch handeln kann, verliert auch den Eigensinn, nämlich die Voraussetzung dafür, die Selbstachtung. Sie stimmt natürlich. Die These des Mannheimer Stücks lautet: Wer seinen Eigensinn nicht ernstnimmt und keine Selbstachtung hat, kann auch nicht solidarisch handeln. Sie stimmt erst recht. In Berlin sollten gewerkschaftlich-politische, in Mannheim künstlerisch-wissenschaftliche Formen des persönlichen Mutes besungen werden. Die alte Streitfrage jener Generation, aus der alle meine besten persönlichen Lehrerinnen und Lehrer stammen, ob man eher Marx glauben solle oder eher Nietzsche, wird, wenn man wirklichen Leuten in gespielten Verhältnissen, also im Theater oder am Arbeitsplatz, aufmerksam zuguckt, jedesmal dahingehend beantwortet, daß man am besten niemandem glaubt und lieber von allen lernt, die, wie Marx und Nietzsche, Wichtiges und Wertvolles zu sagen haben, verpackt in allerlei kühnes Raten und trotziges Behaupten. Marx, übrigens, ist der Klügere von den beiden, weil er sieht, daß selbst der Übermensch nur als Gemeinschaftsprodukt denkbar ist, weil reiche, entfaltete Individualität niemals selbsterschaffen und immer eine soziale Leistung ist (zehn Einsame auf zehn einsamen Inseln sind einander ziemlich gleich: Sie sammeln Nüsse, wehren Raubtiere ab, bauen Schutzhütten. Bringt man sie aber zusammen, können sie die Arbeitsteilung erfinden und im Umgang miteinander Individualität entwickeln).
II. Anekdoten
Weil ich nicht weiß, ob ich jemals dazu komme, die Erzählung, das Gedicht oder gar beide zu schreiben, möchte ich die Gelegenheit nutzen, die mir dieses von den Mannheimern freundlicherweise bestellte Theaterprogrammtextchen bietet, die Geschichten meiner beiden Bekannten zu notieren, über die ich ursprünglich eine Komödie respektive eine Tragödie hatte schreiben wollen.
Er, ein Arzt, hat mir gezeigt, daß Überlebenstechniken, die man aus der Tierwelt kennt, wie Tarnen (manche Motten sehen aus wie Baumrinden, so werden sie, wegen Unauffälligkeit, nicht gefressen) und Warnen (manche Raupen sind giftstachlig und grell, so werden sie, wegen Auffälligkeit, nicht gefressen), mit der Menschenigentümlichkeit „Sprache“ vereinbar sind. Sie, eine Tänzerin, hat bewiesen, daß das Menscheneigentümliche beim Menschen nicht nur in Sprache, Denken und Wirklichkeitszugang wohnt, sondern tief im Biologischen.
Mein Bekannter übernachtete in einem ganz besonders heißen Sommer bei seiner Freundin, einer medizinischen Laborantin. Weil es so warm war, trug er nicht viel Kleidung. Man becherte große Mengen Alkoholika. Am frühesten Morgen, noch immer schwer betrunken, aber unfähig, einzuschlafen, verließ er das gemeinsame Nachtlager in der Unterhose und ging auf den Balkon, um eine Zigarette zu rauchen. In einer dieser Übersprungshandlungen, die Berauschten manchmal unterlaufen, nahm er allerdings sein Handy und den Schlüsselbund, an dem auch ein Schlüssel zum Apartment der Freundin hing, mit nach draußen. Auf einem Korbstuhl schlief er ein und kam etwa zwei Stunden später, gegen Sieben Uhr früh, etwas nüchterner wieder zu sich. Die Balkontür war zugefallen. Sie ließ sich von aussen nicht öffnen. Durch Klopfen und Rufen versuchte er, die nebenan Schlummernde auf sich aufmerksam zu machen. Das mißlang. Er nahm das Handy, versuchte anzurufen, legte das Ohr an die Scheibe: Da dudelte nichts, offenbar hatte sie ihres abgeschaltet. Glücklichwerweise fand sich in einem Haufen Gerümpel, den die Freundin draußen abgelegt hatte, ein alter Laborkittel. Den streifte er über, knöpfte ihn zu und kletterte dann unter erheblichen Balanceschwierigkeiten zwei Stockwerke tief die Hausmauer hinunter, ohne zu bemerken, daß ein böser Spießer (doch, die gibt es noch, trotz 1968) von Gegenüber den ganzen Vorgang beobachtete. Kaum war der Abstieg geglückt, stand der Spießer hinter meinem Bekannten und behinderte diesen mit lautstarkem Gebrüll beim Öffnen der Haustür: „Was machen Sie hier? Sie sind ein Sextäter,“ der Irre schaffte es tatsächlich, das absurde Wort bedrohlich klingen zu lassen, „ich rufe die Polizei!“ Der Möchtegernblockwart zückte bereits sein Mobiltelefon gezogen, als drei Jugendliche mit Migrationshintergrund, die sich auf dem Bürgersteig näherten, auf die Szene aufmerksam wurden. Mit bewunderungswürdiger Geistesgegenwart begann mein Bekannter, die Neuankömmlinge gegen den Spießer aufzuwiegeln: „Hey, könnt ihr mir mal helfen? Der Schwule greift mich an! Ich hab nur Post geholt.“ Die Jugendlichen waren auf Schwule nicht gut zu sprechen, glaubten die Anklage der sexuellen Belästigung sofort – der Mann, der sie erhoben hatte, war ja sichtlich barfuß, ja: hatte nackte Beine – und schlugen den Spießer, der plötzlich keine Lust mehr hatte, die Polizei zu rufen, mit wenigen gezielten Drohungen in die Flucht.
„Strategische Homophobie gegen Nachbarschaftsnazis“ nennt mein Bekannter den Trick, und ist vielleicht ein bißchen zu stolz drauf; aber die Geschichte hat, wie immer sie ethisch zu bewerten ist, jedenfalls Salz, wenn sie auch nicht fürs Drama taugt.
Die Frau, der ich den Plan verdanke, mich an einer Tragödie zu versuchen, verdient dagegen Mitleid. Ein fieses medizinisches Pech macht ihr das Leben sauer: Sie kann nicht ohne unangenehmste Folgen küssen.
Immer, wenn sie es mehr als äußerst flüchtig, und gar noch auf die Lippen (statt etwa die Wange) einer anderen Person, dennoch riskiert, führt eine absurde Allergie gegen Fremdspeichel bei ihr zu scheußlichem Lippenjuckreiz, der oft selbst bei nur wenigen Minuten Kußpraxis tagelang anhält und dem man naturgemäß nicht mit Kratzen beikommt. Dank der praktischen und moralischen Unterstützung ihrer Hautärztin ist es der Tänzerin indes schließlich gelungen, eine Salbe aufzutreiben, die nicht nur die ärgsten Kußfolgen einigermaßen kalmiert, sondern sie manchmal sogar vorab, als eine Art Versiegelung, verhüten hilft.
Die Tragödie liegt darin, daß der Glanz, den jenes seltene Präparat auf ihre Lippen legt, diese aus irgendeinem perversen Grund der Optik und der Triebstruktur der Menschen, die sie sehen, offenbar schöner und begehrenswerter machen als selbst der teuerste Lippenstift.
Was die Kußfolgen mildern soll, gerade das lädt alle zum Küssen ein.
III. Folgerungen
Was uns das Leben mit solchen Sachen sagen will, rät man leicht: Biologische Verhaltensforschung ist zwar gewiß nützlich, sollte aber nicht mit „Behaviourismus“ verwechselt werden, also mit der Ideologie, die so tut, als wäre es ganz unvernünftig, Verhalten auf tiefere Ursachen zurückführen zu wollen, die selbst nicht verhaltensförmig sind. Manch ein auf den ersten Blick biologischer Tatbestand ist in Wahrheit eben doch ein sozialer (und umgekehrt).
Große rote Kangurus (macropus rufus) kämpfen im Stehen, die Haut an Hals und Bauch der Männchen ist deshalb besonders dick. Ich wiederhole die Frage: Wie beobachtet die Verhaltensforschung das Verhalten von Tierarten, deren Individuen sich nicht nur über Sachverhalte der Außenwelt (wie etwa das Verhalten anderer Individuen derselben Spezies), sondern sogar über ihre eigenen Empfindungen, Motive und Instinkte irren können? Die einfachste (nicht die einzige) Antwort lautet: Schau dich doch mal an!
Carla Hanus, Mitteldeutsche Zeitung, 5.9.2011
"Überall wird von Bildungsoffensive gesprochen und was alles getan werden könnte und sollte. Wir tun es bereits!" Seinen ausdrücklich betont gesprochenen Satz unterstreicht Ulrich Katzer mit einer energischen Handbewegung. Katzer ist Vorstandsmitglied im Deutschen Bühnenverein Landesverband Ost und mit "wir" meint er nicht nur die Theater und Orchester der Länder Brandenburgs und Sachsen-Anhalts, die seinem Verein angehören, sondern die Bühnen insgesamt.
Und da Theatermacher Leute von Wort und Tat sind, treten Katzer und die Bühnenvereinsmitglieder auch gleich den Beweis an. Mit dem Theaterfestival der Länder Sachsen-Anhalt und Brandenburg, das sich diesmal ganz bewusst und ausdrücklich den Zukunftsperspektiven des Kinder- und Jugendtheaters zuwendet und ab Dienstag in Dessau zu Gast ist. Mit vielen praktischen Beispielen - sprich Inszenierungen - und mit weniger - aber nicht ganz ohne Theorie.
Für diese anschauliche Bildungsoffensive unter dem Titel "Wagen wir die Wildnis" mussten die Bühnen beider Länder nicht einmal ein extra Programm einstudieren. Die Theater aus Naumburg, Cottbus, Brandenburg, Stendal, Halberstadt, Schwedt, Eisleben, Halle, Potsdam, Magdeburg und natürlich der Gastgeberstadt Dessau-Roßlau zeigen ihre Produktionen, die sie ohnehin im Spielplan haben oder die, wie die Kinderoper "Oskar und die Groschenbande", ihre Voraufführung erleben.
Während in den ersten Jahren des Festivals die Teilnehmer ihre "größten, opulentesten und prestigeträchtigsten Inszenierungen präsentierten, wie es André Bücker, Generalintendant des Anhaltischen Theaters, beschreibt, seien es jetzt thematische Theatertage. Das achte Festival war in Frankfurt / Oder Kleist gewidmet, das nunmehr neunte in Dessau dem Kinder- und Jugendtheater. Vorstellungen für Kinder und Jugendliche, die selbstverständlich auch für die Eltern und für Senioren gedacht seien, sind in den nächsten Tagen hier zu sehen, kündigt Bücker an und lädt alle ein sich umzusehen. "Das ist tolles Theater, lebendig, leidenschaftlich", wirbt der Juror, der diese Stücke mit ausgesucht hat. Es seien Inszenierungen, mit denen man sich identifizieren könne und die die Lebenswirklichkeit spiegelten.
Ergänzt wird der abwechslungsreiche Spielplan der kommenden Tage durch einen Thementag mit Vorträgen, Tischgesprächen und einer Podiumsdiskussion am Donnerstag. Während die Vorträge um 15 Uhr im Foyer des Alten Theaters beginnen, rundet die Podiumsdiskussion "Welche Zukunft gibt es für das Kinder- und Jugendtheater in den neuen Bundesländern?" um 19 Uhr den Tag ab, der mit Gesprächen und einem Büfett ausklingt.
Überhaupt wird an den Festivalabenden ins Alte Theater eingeladen. "Es soll einfach hier was los sein", geht André Bücker diese Theatertage ganz enthusiastisch an. Am Mittwoch heißt es ab 21 Uhr "Tanz dich wild", wenn die Band des Dessauer Liborius-Gymnasiums "The Subs" und DJ Ehrlich die Party-Stimmung anheizen. Am Freitag wird ab 20 Uhr eine Musikvideo-Party im Foyer des Alten Theaters steigen und am Sonnabend ist die Party mit Open Stage und DJ Jan Ehrlich mit "Born to be wild" überschrieben. Dass dieses Angebot natürlich auch für Besucher gilt, die sich keine der zahlreichen Aufführungen ansehen, ist für Bücker selbstverständlich. Ebenso dass es ein Festival-Café gibt, das Restaurant des Alten Theaters sei durchgehend geöffnet, so der Generalintendant.
Mitteldeutsche Zeitung, 2.3.2011
Magdeburg/MZ. Kultur braucht Geld. Das Land muss Schulden abbauen. Wie kommt man da zueinander? Mit dem SPD-Spitzenkandidaten, Sachsen-Anhalts Finanzminister Jens Bullerjahn, und André Bücker, Generalintendant des Anhaltischen Theaters, sprach unser Redakteur Andreas Montag.
Bücker: Will man eine Theaterlandschaft, wie wir sie haben, erhalten, braucht man eine solide finanzielle Ausstattung. Darum ringen wir seit Jahren. Es geht dabei immer darum, das kulturelle Angebot und das kulturelle Erbe zu bewahren, das es in Sachsen-Anhalt so überreich gibt. Hier sind die Theater in einer Mittlerfunktion, weil sie Themen in die Gegenwart fortschreiben. Da wir aber ein analoges Medium sind, ist das auf einem gewissen Niveau nicht ohne entsprechende Mittel zu haben -auch wenn ich weiß, dass Land und Kommunen in einer sehr schwierigen Situation sind. Wir laufen ja nicht mit Scheuklappen durch die Welt. Das bedeutet, es müssen Kompromisse gefunden werden - spätestens dann, wenn neue Theaterverträge abgeschlossen werden sollen. Und an dieser Stelle sind wir bald wieder.
Bullerjahn: Finanzpolitik ist auch analog. Wir bedienen zwar moderne Rechner, aber entscheiden muss der Mensch. Und wir müssen ein paar Voraussetzungen klären: Zukünftige Haushalte werden ohne Schulden gemacht. Es hat keinen Sinn, die Lasten immer auf die Zukunft zu verschieben. Wir alle, Politiker wie Bürger, haben 20 Milliarden Schulden angehäuft. Zweitens leben wir damit, dass alles ganz wichtig ist: Kultur, Bildung, Wissenschaft, Städtebau, die Infrastruktur und die Polizei… Und das bei rückläufiger Bevölkerungsentwicklung und sinkenden Solidarpaktmitteln. Jeder hat gute Argumente für seine Forderung. Und kaum einer sieht auf das Ganze. Aber die Kultur ist inzwischen auch ein eher harter Wirtschaftsfaktor geworden, die Wertschöpfung durch Kultur hat zugenommen. Allerdings sind die regionalen Unterschiede groß und müssen beachtet werden. Es muss also eine qualitative Diskussion geführt werden, vor der darf sich die Politik nicht drücken. Der neue Landtag wird mit dem neuen Doppelhaushalt, dessen Entwurf in drei Monaten vorliegen muss, intensive Debatten vor sich haben.
Bücker: Ich glaube, dass gerade die Theater in diesem Land schon seit Jahren auf neue Weise zu arbeiten begonnen haben. Hier wird nicht Geld für etwas gefordert, wie man es schon immer gemacht hat. Das Bewusstsein, dass Stadttheater einen gesellschaftlichen Auftrag zu erfüllen haben, hat sich durchgesetzt. Immer nur vom Geld zu reden, finde ich im Übrigen auch problematisch. Aber man darf auch nicht vergessen: Wir haben Stellen abgebaut, sparen, wo es geht und zahlen Haustarife. Das heißt, die Einkommen der Mitarbeiter erreichen irgendwann die Region des Existenzminimums.
Bullerjahn: Wir diskutieren in diesem Haus schon konzeptionell und nicht nach dem Rasenmäherprinzip. Aber es gibt eben auch eine Erwartungshaltung, die nicht in Einklang zu bringen ist mit den Möglichkeiten. Wollen wir uns vieles und nur beste Standards leisten, müssten wir auch bereit sein, höhere Steuern zu zahlen. Das ist aber im Moment politisch nicht angesagt. Also bleibt nur die zweite Möglichkeit: Prioritäten zu setzen. Hier verweigern sich jedoch viele. Man muss zum Beispiel auch fragen dürfen, wie viele Bürger eigentlich das Angebot der Theater nutzen?
Bücker: Dazu kann ich gern etwas sagen!
Bullerjahn: (lacht) Ich will Sie ja auch ein bisschen herausfordern. Mir ist natürlich klar, dass die Kultur, die Theater wichtig sind, um Menschen an unser Land zu binden. Trotzdem kann ich nur dazu aufrufen: Gebt uns Entscheidungshilfen. Bekommen wir keine, suchen wir selber welche.
Bücker: Das ist genau der Punkt. Ob man es schafft, ein Land, eine Region, eine Stadt interessant zu machen: Gibt es eine gute Infrastruktur, gute Schulen, kulturelle Angebote?, fragen sich die Menschen.
Bullerjahn: Aber beim Geld ist es im Land nicht anders wie bei Ihnen zu Hause: Sie kennen Ihre Möglichkeiten und richten sich danach. Nur sagen beim Haushalt des Landes alle: Sieh zu, wie Du das löst… Finanzpolitik wird oft unterschätzt, wir denken schon an vernetzte Angebote: Wie können wir Kultur und Bildung zusammenbringen, um einen größeren Ertrag herauszuholen? Aber es ist auch klar, dass wir in jedem der nächsten zehn Jahre 200 Millionen Euro sparen müssen. Der Druck ist groß. Ich weiß natürlich auch um die Bezahlung der Theatermitarbeiter. Man wird sich hier entscheiden müssen, mehr Geld für die Kultur auszugeben - oder eben auch mal einen Schnitt zu machen, wo es nicht anders geht. Das muss allerdings immer transparent und allen bekannt sein. Grundsätzlich bin ich jedoch dafür, dass verschiedene Häuser einer Region, Theater und Museen etwa, zu gemeinsamen Ideen und Angeboten kommen. Dafür kann ich mir auch einen Topf mit der Summe X vorstellen, den diese Einrichtungen dann gemeinsam und selbst verwalten.
Und was, fragt der Moderator, tut die Politik, wenn eine Kommune ihren Anteil an der komplementären Theaterfinanzierung nicht mehr leisten kann?
Bullerjahn: Das ist ein wunder Punkt, zumal wir den Kommunen ja einen harten Konsolidierungskurs verordnet haben. Ich könnte es mir einfach machen und sagen: Wir als Land stehen zu unseren Verpflichtungen - wenn die Kommune nicht mehr kann, ist es deren Problem. Oder aber das Land übernimmt die Mehrlast. Da muss ich aber auch noch einmal sagen: Machen wir uns alle ehrlich und reden über Prioritäten. Dann kann man Mittel auch umschichten. Dieser Diskussionsprozess wird sehr spannend werden in den nächsten Jahren. Damit Sie, Herr Bücker, planen können. Es hilft ja nicht, etwas zu versprechen, obwohl man eigentlich weiß: Es geht nicht.
Bücker: Genau darüber wird man sich unterhalten müssen. Denn eines ist klar: So, wie wir es in den letzten acht Jahren gehalten haben, mit Einsparungen bis an die Schmerzgrenze, wird es nicht noch eine Förderperiode lang gehen. Nicht nur wir am Anhaltischen Theater arbeiten am absoluten Limit. Also muss man jetzt auch beginnen, sich darüber zu unterhalten, wie unsere kulturelle Landschaft in zehn Jahren aussehen soll.
Bullerjahn: Hier sind wir Partner. Ich glaube, dass Ihnen die Finanzpolitik mit der Schuldenbremse sogar hilft, die Diskussion über Prämissen zu erzwingen. Warum nehmen wir uns nicht einen Kulturkonvent vor? Ein Forum, in dem sich die Beteiligten selbst fragen, wie es um die vorhandenen Angebote steht. Und um die Nachfrage.
Bücker: An einer solchen Debatte hätte ich Interesse. Aber es darf natürlich nicht so sein, dass ein Theater die Notwendigkeit des anderen bewertet.
Bullerjahn: Da wird das Kulturministerium als Begleiter gefragt sein, wir sind ja eher die Mahner. Es wird uns nichts anderes übrig bleiben, als diesen Diskurs zu führen, um nicht immer nur die eigenen Interessen zu verteidigen.
Bücker: Aber an den einzelnen Standorten haben sich eben auch ganz unterschiedliche Prioritäten herausgebildet. Bei uns zeigen alle auf das riesige Haus, aber wir erzielen, an der Bevölkerung von Dessau-Roßlau gemessen, die beste Auslastung. Und wir sind mit anderen Einrichtungen, zum Beispiel dem Bauhaus, vernetzt.
Bullerjahn: Eine Diskussion über Qualität muss man führen. Es hilft nicht, wie die Katze um den heißen Brei herumzuschleichen. Jeder weiß doch, dass sich etwas ändern muss. Geben wir uns also die Freiheit, vielleicht über den Zeitraum eines Jahres, im Konvent zu streiten. Sonst wird am Ende das Geld entscheiden.
Bücker: Warum nicht debattieren? Dabei würde man sich des Wertes der Kultur wieder stärker bewusst. Und die Frage klären: Wohin wollen wir?
Bullerjahn: Und woher sollen wir das Geld dafür nehmen.
Bücker: Wie ich es immer zu meinen Mitarbeitern sage…
Corinna Nitz, Mitteldeutsche Zeitung, 16.02.2011
Martin Luther war nicht nur ein Freund der Musik. Er trug auch zu ihrer Demokratisierung bei. "Hilfe, sie singen alle!" war Stefan Rhein zufolge eine zeitgenössische Reaktion auf die neue Gottesdienstkultur der Reformation, als auch die Gemeinde begann, fröhlich ihre Stimme zu erheben. Am Dienstag erinnerte Rhein, Direktor der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, mit dieser Anekdote an die musische Seite des Reformators, als im Lutherhaus Wittenberg das internationale Musikfestival des spirituellen Gesangs "Himmel auf Erden" vorgestellt wurde.
Programm gesichert
Nun wurde dieses in Form und Anlage bemerkenswerte Fest, welches ein Beitrag zur Lutherdekade ist, zwar schon bei früheren Gelegenheiten öffentlich kommuniziert, aber noch nie war Wittenberg diesem Himmel so nah wie jetzt. Denn für das erste der drei Festivaljahre ist das Programm gesichert, und unter der Überschrift "Im Anfang" stehen vom 24. Juni bis 3. Juli die verschiedenen Schöpfungsmythen im Zentrum. Dabei werden zu zehn Konzerten renommierte Ensembles und Künstler aus Deutschland, Israel, Indien, Australien, Japan, der Schweiz und der Türkei erwartet und mit ihrer Kunst die Religionen der Welt repräsentieren. Veranstaltet wird das Musikfestival vom Verein "WittenbergKultur" und dem Anhaltischen Theater Dessau. Dessen Generalintendant André Bücker hob am Dienstag die Bedeutung hervor, sich "im Zentrum der Reformationsdekade damit zu beschäftigen, wie sich andere Kulturen geistlich ausdrücken". "WittenbergKultur"-Geschäftsführer Johannes Winkelmann erinnerte noch einmal daran, dass die Kulturstiftung des Bundes das Projekt in diesem Jahr sowie 2012, wenn im Rahmen der Lutherdekade das Themenjahr "Reformation und Musik" begangen wird, mit jeweils 200 000 Euro unterstützt. Dies sei einerseits eine Würdigung und andererseits besonders die Verpflichtung, die Jahre bis 2017, wenn Luthers Thesenanschlag von 1517 gefeiert wird, "auch mit Inhalten zu füllen". Von Inhalten jenseits umfangreicher Gebäudesanierungen sprach auch Wittenbergs Oberbürgermeister Eckhard Naumann (SPD). Man müsse das Reformationsjubiläum erlebbar machen und dabei gehe es nicht nur um "Belehrung, sondern auch um Unterhaltung".
Unterhaltsame Diskussion
Unterhaltsam sollen also bald die ganz großen Fragen thematisiert werden, etwa danach, wie Himmlisches ins irdische Leben integriert werden kann oder woher wir kommen und wohin wir gehen? Fragen, die bei allen Unterschieden sämtliche Religionen bewegen, alle Konfessionen und jede noch so kleine Glaubensgemeinschaft.
Davon, dass das Konzept des Festivals aufgeht, scheint übrigens auch der Berliner Kulturstaatsminister Bernd Neumann überzeugt. Sonst hätte Naumann am Dienstag nicht noch rasch per Fax mitgeteilt, dass er die Schirmherrschaft für "Himmel auf Erden" übernimmt.
Pressemitteilung vom 28.10.2010
Alljährlich wartet die Opernwelt mit Spannung auf die Kritikerumfrage im Jahrbuch der Zeitschrift „Opernwelt”. Im Oktober erschienenen Jahrbuch 2010 hat das Anhaltische Theater Dessau insgesamt 11 Nominierungen erhalten und schnitt damit hervorragend ab. In der wohl wichtigsten deutschlandweiten Kritikerumfrage für das Musiktheater erhielt das Anhaltische Theater Nominierungen als „bestes Opernhaus des Jahres“ für die Produktionen „Lohengrin“, „La Muette de Portici“ sowie sein „neues, handverlesenes Sängerensemble“. Andrea Moses wurde für ihre Inszenierung von „Lohengrin“ mehrfach als „Regisseurin des Jahres“ nominiert, ebenso „La Muette de Portici“ in der Inszenierung von Generalintendant André Bücker in der Kategorie „Wiederentdeckung“. Zahlreiche Nominierungen gab es ebenfalls für Generalmusikdirektor Antony Hermus als „Dirigent des Jahres“ speziell für seine Dirigate von „Lohengrin“ und „Un ballo in maschera“ sowie für den Opernchor des Anhaltischen Theaters als „Chor des Jahres“. Über individuelle Nominierungen als „Sänger des Jahres“ bzw. „Nachwuchssänger des Jahres“ können sich Diego Torre und Pavel Shmulevich freuen. Diego Torre für sein Europadebüt als „Masaniello“ in „La Muette de Portici“, Ensemblemitglied Pavel Shmulevich für seine Aufritte als Heinrich in „Lohengrin“ sowie „Sarastro“ in „Die Zauberflöte“.
Nina May, Die Zeit, 21.10.2010
Das Beispiel Anhaltinisches Theater zeigt, dass Protest gegen Kulturkürzung erfolgreich sein kann
»Kein schöner Land« – das Spielzeitmotto prangt auf einem riesigen Plakat am Eingang des Anhaltinischen Theaters Dessau. Es wirkt ein wenig selbstironisch, denn Kürzungsszenarios drohen diesen Ort zu einem hässlichen Fleck verkommen zu lassen. Im März hatte die Stadt Dessau-Roßlau angekündigt, die Zuschüsse für das Theater von 2013 an zu halbieren, sodass 3.5 Millionen Euro wegfielen, die weitere 3,5 Millionen an Landesmitteln abzögen. Ein Repertoiretheater wäre damit unmöglich, eine knapp 200-jährige Theatertradition würde ausgelöscht. Intendant Andre Bücker sagte damals: »Dann werden wir eine seelenlose Hülle für fahrende Theatertruppen.«
Die Bürgerinitiative »Land braucht Stadt« kämpft seitdem für das Haus, aber auch für Schwimmbäder, Bibliotheken und Sportvereine, die ebenfalls gefährdet sind. Da solle sich niemand über Abwanderung beschweren, kritisierte Bücker im März und warnte vor einem »Brachland, durch das wohlhabende Touristen fahren, um sich die Weltkulturerbestätten anzusehen.«
Davon hat Dessau gleich zwei: die Bauhaus-Meisterhäuser und das Gartenreich Wörlitz. Mit diesem Kulturreichtum sei die Stadt finanziell überfordert, sagt Bücker heute, man versuche jetzt einen Teil der Verantwortung an das Land abzugeben. Er sei zuversichtlich: »Niemand hier will das Theater schließen.«
Man könnte Dessau also vorsichtig als Beispiel dafür anführen, dass die zurzeit allerorten ausgetragenen Kämpfe nicht zwangsläufig böse enden müssen. Als Beispiel dafür, dass die Politik einlenkt, wenn die Bürger ihr kulturelles Erbe verteidigen. Damit schimmert in Dessau auch Hoffnung für die krisengebeutelten Häuser der Region: Gerade wurde ohne Debatte die Schließung des Thalia Theaters Halle beschlossen, das mit mutigen Inszenierungen die Probleme der Region (etwa rechtsradikale Tendenzen in der Fanbewegung »Ultras«) ansprach, und die Insolvenz des Theaters Altenburg-Gera wurde gerade noch abgewendet. In Leipzig könnten durch eine Novelle des sächsischen Kulturraumgesetzes von 2011 an 2,5 Millionen Euro an Landesmitteln wegfallen, mit denen Sachsen die Landesbühnen Radebeul retten will. Das träfe in Leipzig vor allem Oper. Schauspiel und Gewandhaus, jeden Tag werden neue Horrorszenarios verhandelt – von reduzierten Spielplänen bis temporärer Schließung.
Doch in Dessau ein leises Aufatmen. Kein schöner Land – Bücker versteht das Motto schlicht als Liebeserklärung an das Theater als Ort der Arbeit und der Utopie. Und vielleicht ist es diese Leidenschaft, die dem Anhaltinischen Theater die Auszeichnung der Deutschen Bühne für ungewöhnlich überzeugende Theaterarbeit abseits großer Zentren einbrachte. Dabei kennt das Land schönere Orte als diesen schmucklosen Bau aus dem Jahr 1938. zu dessen Geschichte auch der erste Schauprozess der DDR unter Vorsitz von Hilde Benjamin gehört.
Jetzt wurde in Dessau die Uraufführung von Doktor Mabuse nach Motiven von Norbert Jacques und Fritz Lang gefeiert. Andre Bückers Inszenierung erreicht zwar nicht ganz den Wahnsinns-Sog von Langs Stummfilm (1922), beweist aber unaufdringlich, dass Doktor Mabuse und seine Opfer Menschen unserer Zeit sind, wie es im Untertitel heißt.
Mabuse, das Vorbild aller James-Bond-Schurken, manipuliert Börsenkurse und menschliche Sinne, um seinen Willen durchzusetzen. Das Theater erobert sich in Dessau sein ureigenstes Melier, das Spiel mit Masken und Wahrnehmung, zurück: In einer eindrücklichen Szene erscheint das Ensemble mit Monitoren vor den Gesichtern, und auf den Monitoren zucken menschliche Augenlider. Bückers Regieplan geht auf, und im dekadenten Spielermilieu der 1920er Jahre finden wir die Spaßgesellschaft von heute wieder. Nur als sehnsuchtsvoller Ruf nach »Eitopomar«, einer Inselgesellschaft, geformt nach dem Willen Mabuses, klingt die Utopie des Universalverbrechers an. Für Doktor Mabuse jedoch, dem sich ausgerechnet die begehrte Frau verweigert, kann es kein schönes Land geben.
Nina May, Leipziger Volkszeitung, 13.10.2010
Uraufführung nach dem Stummfilm von Fritz Lang über den Prototyp des börsenmanipulierenden Verbrechers
„Wer ist Doktor Mabuse?“, heißt es derzeit auf der Homepage des Anhaltischen Theaters Dessau-Roßlau. Hinter unheimlichen Symbolen (Hexenhand und Überwacher-Auge) verbirgt sich ein Memory-Spiel: Wenn man ein Paar der sonnenbebrillten Menschen zusammen führt, erscheinen Sätze wie: „Du willst mich töten mit deinem Zauber“ oder „Schlafen will ich, mehr denn leben“. Das klingt sehr geheimnisvoll – und stimmt so auf die Uraufführung von „Doktor Mabuse“ am Freitag an.
Nach dem Roman von Norbert Jacques und dem Stummfilm-Klassiker von Fritz Lang („Der Spieler“, 1921/22) inszeniert Intendant André Bücker das Stück über diesen Prototyp des Verbrechers, der als Vorbild etwa für James-Bond-Filme diente. Seine Faszination für den Stoff erklärt Bücker so: „Im Zentrum stehen das Böse, die Abgründe der menschlichen Seele, aber zugleich geht es um einen verzweifelt Liebenden, der bei einer Frau Erlösung sucht, doch sie verweigert sich ihm. Es ist zudem eine hochspannende Kriminalgeschichte, um einen Mann, der die Börsen manipuliert, da sind wir ganz nah bei heute.“ Das Zitat im Stück „Es gibt keine Werte mehr, nur noch Gier“ ließe sich gut auf die inzwischen geplatzte Spekulationsblase beziehen.
Es drehe sich außerdem um kollektives Unterbewusstsein, Mabuse beherrscht die Menschen über Hypnose. Auch mit der Wahrnehmung der Zuschauer werde gespielt: „Das Bühnenbild ist ständig in Bewegung, wir arbeiten mit Spiegeln, auf die Videosequenzen projiziert werden und greifen so das filmische Mittel der Überblendung auf.“ Eine eigens für den Abend komponierte Musik erzeuge Spannung – „Damit sind wir dann wieder beim Stummfilm, der ja nie eigentlich stumm, sondern immer ein Musikfilm war.“
Das Anhaltische Theater, das in der Kritikerumfrage der Fachzeitschrift Deutsche Bühne dieses Jahr in der Kategorie „Ungewöhnlich überzeugende Theaterarbeit abseits großer Theaterzentren“ am häufigsten genannt wurde, gibt unterdessen teilweise Entwarnung: Die finanziell stark angeschlagene Stadt hatte im März angekündigt, die Zuschüsse ab 2013 zu halbieren. Die Kürzung um 3,5 Millionen Euro würde einen Wegfall von weiteren 3,5 Millionen Euro an Landeszuschüssen nach sich ziehen. Bücker sagte damals: „Das wäre das Ende vom Repertoiretheater.“ Es gründete sich die Bürgerinitiative „Land braucht Stadt“, die für den Erhalt des Theaters kämpft. Heute sagt Bücker: „Wir sind guter Hoffnung, dass wir die Kürzungen abwenden können. Niemand hier will das Theater abschaffen und eine 244-jährige Tradition beenden.“ Die Kommune sei durch all die Kulturschätze wie Gartenreich und Bauhaus-Meisterhäuser finanziell überfordert, nun versuche man, das Land zu gewinnen, einen Teil der Verantwortung zu übernehmen.
Pressemitteilung vom 15.09.2010
Nachdem das Anhaltische Theater bei der Autorenumfrage zur Saison 2009/10 des Theatermagazins Die Deutsche Bühne im Sommer den Spitzenplatz in der Kategorie Ungewöhnlich überzeugende Theaterarbeit abseits großer Theaterzentren eroberte, wird dem Anhaltischen Theater eine weitere Auszeichnung zuteil.
Chefregisseurin Andrea Moses erhielt eine Nominierung mit ihrer Inszenierung „Lohengrin“ für den Deutschen Theaterpreis DER FAUST in der Kategorie Regie Musiktheater. Ihre „Lohengrin“ Inszenierung erregte überregional enorme Aufmerksamkeit und verschaffte dem Anhaltischen Theater zu Beginn der Spielzeit 2009/10 unter der neuen Generalintendanz André Bückers einen fulminanten Start. DER FAUST wird am 27. November zum fünften Mal verliehen. In diesem Jahr findet die Vergabe im Aalto-Theater Essen im Rahmen der Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010 statt. DER FAUST ist ein nationaler, undotierter Theaterpreis, der auf die Leistungskraft und künstlerische Ausstrahlung der Theater aufmerksam macht und diese würdigt. Er wird vom Deutschen Bühnenverein gemeinsam mit den Bundesländern, der Kulturstiftung der Länder und der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste vergeben. Mitveranstalter 2010 ist das Land Nordrhein-Westfalen. Ausgezeichnet werden Künstlerinnen und Künstler, deren Arbeit wegweisend für das deutsche Theater ist. DER FAUST wird in acht Kategorien verliehen. Zudem gibt es den Preis für das Lebenswerk und den Preis des Präsidenten.
Pressemitteilung vom 9.9.2010
Auf die Frage nach einer Person, die durch ihre künstlerische Arbeit zur zeitgemäßen Entwicklung der Oper einen herausragenden Beitrag geleistet hat, wurde Christoph Marthaler am häufigsten genannt. Andrea Moses folgt ihm auf dem Fuße. „Mit ihrem Dessauer LOHENGRIN ist es der Chefregisseurin des Anhaltischen Theaters gelungen, die Geschichte zu erzählen, ihr Potenzial für die Gegenwart zu erschließen und das Ganze mit einer atemberaubend spannenden Personenregie zu verbinden. Es ist eine Inszenierung, die einen Platz in der Rezeptionsgeschichte des Werkes beanspruchen darf.“ Joachim Lange Eine weitere Frage lautete: Nennen Sie ein Theater, dass Sie überzeugt hat, weil es in einer kleineren Stadt abseits großer Theaterzentren ein besonders anspruchsvolles Gesamtprogramm beim Publikum durchsetzt. „Dies ist die Kategorie der knappen Ergebnisse – diesmal allerdings mit einem klaren Spitzenreiter: „Nach dem Ende der Ära von Johannes Felsenstein, ist der neuen Leitung unter André Bücker, ein furioser Neustart in allen Sparten gelungen“, schreibt Joachim Lange über das Anhaltische Theater in Dessau, das sich klar von der Konkurrenz abgesetzt hat. „An dem traditionsreichen und von aktuellen Budgetkürzungsplänen in seiner Existenz bedrohten Theater knüpft eine überzeugende ästhetische Neuausrichtung an die Stärken des Hauses an, setzt auf dessen Einbindung in die Stadt und die Region und nimmt das Publikum dabei mit. Setzte im Schauspiel Regisseur Armin Petras mit seiner SCHLEEF-Inszenierung gleich zu Beginn ein Zeichen, konnte sich das Musiktheater mit der spektakulären LOHENGRIN-Inszenierung von der Chefregisseurin Andrea Moses und der vor allem musikalisch erstklassigen Produktion von Aubers Oper DIE STUMME VON PORTICI sogar als derzeit führendes Opernhaus in Sachsen-Anhalt profilieren. Das gilt ebenso für das Tanztheater von Tomasz Kajdanski.“
Pressemitteilung, Die Deutsche Bühne - Theatermagazin, 29.07.2010
Das Anhaltische Theater in Dessau hat bei der Autorenumfrage zur Saison 2009/10 des Theatermagazins Die Deutsche Bühne den Spitzenplatz in der Kategorie Ungewöhnlich überzeugende Theaterarbeit abseits großer Theaterzentren erobert. Mit drei Nennungen plus fünf weiteren in den Kategorien Gesamtleistung, Oper und Tanz konnte es sich deutlich vom Staatstheater Saarbrücken und dem Theater Aachen absetzen. Sieger der Kategorie Überzeugende Gesamtleistung wurde das seit 2007 von Karin Beier geleitete Kölner Schauspielhaus, das hier sechs Nennungen sowie sechs weitere in der Kategorie Herausragender Beitrag zur aktuellen Entwicklung des Schauspiels erreichte.
Auf Platz zwei unter Gesamtleistung kam die Oper Frankfurt mit insgesamt acht Nennungen, darunter drei für herausragende künstlerische Einzelleistungen. Alljährlich befragt das vom Deutschen Bühnenverein in Köln herausgegebene Magazin seine ständigen Theater-Fachautoren in acht verschiedenen Kategorien nach ihrer Einschätzung der vergangenen Theatersaison, wobei großer Wert auf die Berücksichtigung kleinerer Theater abseits der Zentren gelegt wird. Mit etwa 50 ständigen Teilnehmern ist die Theaterumfrage die am breitesten aufgestellte im deutschsprachigen Raum. In der Off-Theater-Kategorie bekam das Junge Ensemble Stuttgart die meisten Stimmen. Meistgenannter Schauspiel-Regisseur ist Andreas Kriegenburg, in der Oper votierten die meisten Teilnehmer für Christoph Marthaler, beim Tanz steht Martin Schläpfer vorn. Unter Enttäuschung der Saison belegt die Verärgerung der Autoren über sinn- und konzeptlose Sparpläne der Kommunen und Länder mit weitem Abstand einen traurigen Spitzenplatz. Der wichtigste Trend in der Umfrage war diesmal die Vielfalt – und damit die Abwesenheit eines Trends. In den ausführlichen Begründungen ihrer Nennungen verwiesen die Autoren immer wieder darauf, dass Häuser, die ihrem Publikum eine Mannigfaltigkeit verschiedener Theaterformen und künstlerischer Handschriften präsentieren, sie am stärksten überzeugt hätten – gerade auch da, wo die Häuser diese Vielfalt nutzen, um unterschiedliche Zuschauergruppen zu erreichen. Unter der Überschrift Die große Diversifizierung wird dieses Ergebnis der Umfrage im Augustheft der Deutschen Bühne beleuchtet.
Frankfurter Rundschau, Joachim Lange, 14.07.2010
Es ist ein Spuk, von dem man nicht so genau weiß, wann er vorbei ist. Dass er nicht im Theater selbst, sondern im Dessauer Stadtpark stattfand, muss man aber nicht gleich als böses Omen sehen. Das "SommerNachtTraum" Spektakel, mit dem Chefregisseurin Andrea Moses jetzt eine so interessante wie erfolgreiche Saison des künstlerischen Neustarts abschloss, passt in seinem Changieren zwischen dem Übermut Shakespeares und der Hintersinnigkeit von Botho Strauß ganz gut in diesen Park. Die finsteren Geister, die die sagenhafte Sommernacht auch weckt, hatten hier vor zehn Jahren zum Mord am Mosambikaner Alberto Adriano geführt und die Stadt im Mark erschüttert. Dessau geht es wie vielen Städten in Ostdeutschland. Dem unübersehbaren Gewinn im Stadtbild stehen Deindustrialisierung und Abwanderung (in Dessau seit 1989 mehr als ein Viertel der Einwohner) gegenüber. Die Internationale Bauausstellung, für die das Bauhaus Dessau ein quasi natürliches Zentrum ist, illustriert die Dimension dieses Umbruchs gerade eindrucksvoll.
Das Theater der Stadt ist eine wuchtige architektonische Behauptung. Man wollte hier in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts ein Bayreuth des Nordens schaffen. Und so sieht der Bau auch aus. Zwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch der DDR gehört dieses mit seinen über 1000 Plätzen überdimensionierte, in der Region aber gut vernetzte Haus, neben Bauhaus und Wörlitzer Park, zu den wenigen guten Gründen, die A9 in Richtung Dessau zu verlassen.
Einfach war die Finanzierung nie. Doch die strukturelle Schieflage der Theater-Finanzierung und die bislang ziemlich fantasielosen Reaktionen auf den drohenden Kollaps der Kommunalfinanzen bedrohen das Theater jetzt existenziell. Die aktuelle "Blut und Tränen"-Streichliste sieht allein für das Vierspartenhaus (Musik, Schauspiel, Ballett, Puppentheater) eine Kürzung von 3,5 Millionen Euro vor. Bei der bisherigen Kopplung der Landeszuschüsse an den kommunalen Finanzierungsanteil würde die Umsetzung 2013 das Aus für das Theater bedeuten. Mit all den verheerenden Konsequenzen, die das für die Bewohnbarkeit dieser Stadt hätte.
Weil hier ein zweites Wuppertal droht, waren denn auch für ein Krisengespräch des Intendanten André Bücker beim parteilosen Dessauer OB Klemens Koschig prominente Unterstützer angereist. Neben dem Vorsitzenden der Intendantengruppe des Deutschen Bühnenvereins, Holk Freytag, waren die Amtskollegen aus Potsdam (Tobias Wellemeyer), Senftenberg (Sewan Latchinian) und aus Berlin vom Deutschen Theater (Ulrich Khuon) angereist. Zumindest das Bekenntnis, nach einer Lösung für das Haus suchen zu wollen, schien (anders, so Holk Freytag, als bei der Schließung des Schauspielhauses in Wuppertal) auch bei der arg gebeutelten, drittgrößten Kommune Sachsen-Anhalts offenkundig.
Ob freilich die anvisierte Umwandlung in ein Staatstheater eine belastbare Lösung ist, scheint nicht nur wegen der dann zu erwartenden Begehrlichkeiten in Halle oder Magdeburg fraglich. Bis die Finanzierungsproblematik im Kontext einer überfälligen, aber sich bislang nicht abzeichnenden Reform der finanziellen Sicherung der Kommunen gelöst werden kann, kann es nur um die Suche nach Überlebensstrategien und den vehementen künstlerischen Einsatz gehen.
So ist die Kopplung der Landeszuschüsse an die der Kommunen natürlich kein Naturgesetz. Wenn das Land zeitweise wegbrechende Beiträge der Kommune ausgleichen würde, wäre das ja keineswegs ein Angriff auf die Kulturhoheit der Länder, sondern eher ein Beispiel ihrer Wahrnehmung. Zumal, gesamtwirtschaftlich gesehen, jeder eingesetzte Euro eine Investition mit Ertrag und kein verlorener Verbrauch von Mitteln ist. Immerhin hat das Theater der 88000 Einwohner zählenden Stadt Dessau in jedem Jahr mehr als 200000 Zuschauer. Auch deshalb scheint man hier den Argumenten der Intendanten immerhin zuzuhören. Entmutigt wirkten sie jedenfalls nicht. Auf ihrem Feld haben die, alles in allem, 300 Mitarbeiter des Theaters imponierend Flagge gezeigt. Und das gleich im ersten Jahr. Der Wechsel vom Langzeitintendanten Johannes Felsenstein zu André Bücker und seinem neuen Leitungs-Team ist hier nämlich nicht nur ausgesprochen erfolgreich, sondern auch mit einer erkennbar neuen Ästhetik in allen Sparten gelungen.
Ob nun im Schauspiel, gleich zu Beginn, mit eine Schleef-Bearbeitung von Armin Petras oder im Tanztheater. Da überzeugten Tomasz Kajdanksi und seine Truppe erst mit seiner Version von "Lulu" und dann mit "Nachtasyl" nach Maxim Gorki. Ambitioniert in der Choreografie und virtuos in der Umsetzung; in beiden Fällen mit Musik von Schönberg bis Glanert, und das aus dem Graben und nicht aus der Konserve.
Nicht nur beim Tanz hat sich Dessau damit an die Spitze der Theater in Sachsen-Anhalt gesetzt. Vor allem in der Oper war der "Lohengrin" von Andrea Moses eine szenische Offenbarung. Dass es ihr, dem Intendanten und dem neuen GMD Antony Hermus aber auch um den musikalischen Standard des Hauses geht, bewiesen sie mit dem ausgegrabenen französischen Fünfakter "Die Stumme von Portici" von Daniel-François-Esprit Auber. Und das lag nicht nur an einem hier zu entdeckenden mexikanischen Tenor mit Weltstar-Potenzial namens Diego Torre, sondern am gesamten Ensemble. Das spielt, als ginge es um sein Überleben. Eine Redewendung, die mittlerweile den Beigeschmack von Wahrheit hat.
Das Anhaltische Theater Dessau beginnt heute seinen Sommerspielplan
Märkische Allgemeine, 09.07.2010DESSAU - Sommerzeit gleich Urlaubszeit, zumindest am Potsdamer Hans-Otto-Theater. Bis zum 7. September ruht der reguläre Spielbetrieb. Gastspiele oder eine Sommer-I nszenierung im Umfeld der vielbesuchten Schlösser und Gärten sind nicht vorgesehen.
Eine durchgehende Sommerpause leistet sich das Anhaltische Theater Dessau nicht. Trotz oder gerade wegen der schwierigen Situation - das Haus ist ab 2013 von umfassenden Sparmaßnahmen bedroht - arbeitet die Theatercrew eingeschränkt weiter. In die Sommerpause gehen die Sparten versetzt, wie Intendant Andre Bücker er klärt. So gibt es auch Im Juli und im August Vorstellungen. Das Theater ist außerordentlich wichtig für den Tourismus der Bauhaus-Stadt. Die Besucher wollen das kulturelle Angebot vor Ort in Gänze wahrnehmen, so Bücker.
In seinen Augen setzt das Bauhaus hohe ästhetische Maßstäbe, die für die darstellerischen leistungen und die Konzeption der Inszenierungen eine Messlatte darstellen. Sein Theater muss aber auch sehr unterschiedliche Ansprüche und Schichten bedienen. Und so betrachtet es der Intendant als seine Aufgabe, einen Spielplan vorzulegen, „der Inhaltlich auch zusammenpasst“. Verdi- und Mozart-Opern stehen neben Inszenierungen von Shakespeare-, Klelst- und Kurt-Weill-Stücken. Auch Gegenwartsstücke wie „Der Kick“ von Andres Veiel oder „Der Park“ von Botho Strauß werden aufgeführt. Den Ansprüchen zu genügen, sei ein immerwährender Kraftakt: Schon Jetzt pfeife das Theater auf dem letzten Loch, sagte Andre Bücker, der gerade seine erste Spielzeit in Dessau hinter sich hat. Jede Sparmaßnahme hätte für das Vierspartenhaus, das Oper, Operette, Musical, Tanztheater, Schauspiel und Puppentheater anbietet, dramatische Folgen. Bisher stehen dem Dessauer Ensemble 15 Millionen Euro im Jahr zur Verfügung. Die Zuwendung teilen sich das Land Sachsen-Anhalt und die Stadt Dessau. (Zum Vergleich: Das einspartige Hans-Otto-Theater in Potsdam erhalt im Jahr etwa 9,3 Millionen Euro.)
Doch derzeit geht in Dessau die nackte Angst um. Die Stadt trägt sich mit dem Gedanken, den Etat ab 2013 um 3,5 Millionen Euro zurückzufahren, das Land würde In diesem Falle seine Förderung um die gleiche Summe reduzieren. „Das käme einer Schließung gleich“, sagt Intendant Bücker. Konkret sei jedoch noch nichts. Sein Haus ist mit 350 Mitarbeiter, die mit einem Haustarif abgespeist werden, einer der größten Arbeitgeber in der Region.
Über mangelndes Interesse seitens der Besucher beklagt sich der Theatermacher nicht: Rund 200 000 Menschen sehen sich pro Jahr eine Aufführung in dem Traditionshaus an, das bereits im Jahr 1766 gegründet wurde. Das sind mehr als doppelt so viele Menschen, wie in Dessau leben. Der Spielplan zieht auch Publikum aus Bitterfeld, Zerbst, Köthen, Südbrandenburg und sogar aus Berlin an.
Auf rund 600 Veranstaltungen kommen die Macher pro Jahr. Dazu zählt aber nicht nur das Bühnengeschehen. Orchestermusiker begleiten in Kindergarten und Grundschulen die musikalische Fruherziehung, es gibt ein Kinderballett und einen Kinderchor sowie theaterpädagogische Angebote für Lehrer und Schüler. „Es ist Teil des Auftrags der Stadttheater, den Menschen den Zugang zur Kultur kostengünstig zu ermöglichen“ , betont Andre Bücker.
Auch wer keinen Cent für Kultur übrig hat, kann in den Genuss des Dessauer Theaters kommen: Hin und wieder wird die Suppenküche zum Veranstaltungsort. „Wir gehen sehr verantwortungsvoll mit den Mitteln aus öffentlicher Hand um“, versichert Bücker. Doch rein kommerzielles Denken ist der Sache wenig dienlich, denn Kultur und Bildung sind nun mal nicht immer wirtschaftlich, betont er. Die deutschen Stadttheater selen ein Ort innovativer Kunst, aber auch ein Ort, um Bildung und Werte zu vermitteln.
Müsste sein Haus schließen, würde das eine tiefe Schneise in das Kulturangebot in und um Dessau schlagen. Auch das Image der Stadt ware schwer angeschlagen. Aber Andre Bücker hofft, dass es so weit nicht kommt.
Einen möglichen Ausweg sieht er darin, dass aus dem Anhaltischen Theater Dessau ein Staatstheater wird, das hauptsachlich vom Land finanziert wird. Dann gabe es auch in Sachsen-Anhalt ein Staatstheater. Die Konkurrenz um diesen Titel durch das Theater Magdeburg in der Landeshauptstadt fürchtet er nicht. Dessau sei nunmal die Kulturhauptstadt des Landes und ein Bekenntnis zu diesem Ort längst überfällig. Andre Bücker gibt sich kämpferisch. Der gebürtige Niedersachse kennt sich in der ostdeutschen Theaterlandschaft aus. Von 2005 bis 2008 leitete er das Nordharzer Städtebundtheater Halberstadt/Quedlinburg. „Im Überlebenskampf habe ich also schon Übung“, versichert er.
von Ute van der Sanden
Generalintendant André Bücker inszeniert „Die Stumme von Portici“. Zum nunmehr sechsten Mal kommt die Revolutionsoper von Daniel-François-Esprit Auber am Sonnabend in Dessau auf die Bühne.
Der Mann hat gründlich recherchiert. Auber, sagt André Bücker, sei Tradition in Dessau und daselbst der meistgespielte Opernkomponist: nach Wagner, Mozart, Verdi, Puccini und Lortzing, versteht sich. „Die Stumme von Portici“ komme nun bereits zum vierten Mal am Haus heraus. An die jüngste Einstudierung von 1958/59 könnten sich „einige Theaterfreunde noch gut erinnern“, weiß der Generalintendant.
„La Muette de Portici“ besitzt alle Eigenschaften eines ebenso sonderbaren wie schlagkräftigen Revolutionsstücks. Schon die Besetzung: Stumm auf der Opernbühne, wo gibt´s denn so was! Daniel-François-Esprit Auber sah für die Titelfigur der Fenella eine Tänzerin vor – in Dessau getanzt von Gabriella Gilardi. Die tragende Tenorpartie ist Masaniello zugedacht, dem Anführer der gegen die spanischen Besatzer revoltierenden Neapolitaner. Mit ihm gibt Diego Torre, einer der vielversprechendsten dramatischen Tenöre, sein Europadebüt. Soeben gastierte der 30-jährige Mexikaner in New York.
Aubers Musik ist dem italienischen Belcanto abgelauscht – es wird, sobald sich der Vorhang hebt, folglich weder an großen Gesangspartien noch an imposanten Stimmen mangeln. Neben Angelina Ruzzafante, Eric Laporte, Wiard Witholt, Angus Wood und Ulf Paulsen in den Solorollen sind Statisterie, Extrachor Coruso und Kinderballett besetzt. Die Handlung datiert im 17. Jahrhundert, es geht um Tyrannei, Solidarität und hoffnungslose Liebe. In der Dessauer Strichfassung, die vor allem auf Da-capo-Teile verzichtet, dauert es etwa zweieinhalb Stunden, bis am Ende der Vesuv ausbricht und Fenella in die glühende Lava stürzt. Nicht weniger spektakulär ist die Aufführungsgeschichte der Oper: Nach einer Vorstellung in Brüssel 1830 geriet das belgische Volk derartig in Wallung, dass es sich von der Herrschaft der Niederländer befreite. Warum also wird der Fünfakter, mit dem die Epoche der französischen Grand opéra begann und der einst ein Bühnenschlager war, heute derartig ignoriert? Das „unglaublich schlechte“ Aufführungsmaterial führt der Regisseur als erste Ursache an. Als weitere die Scheu vor Stücken jenseits des gängigen Repertoires. Umso entschlossener wählte der Generalintendant ausgerechnet dieses Werk für seine erste Musiktheaterinszenierung am Anhaltischen Theater. „Sein Plot ist toll“, schwärmt Bücker, „die Musik ist toll, es passte gut in den Spielplan.“ Und zum Spielzeitmotto. „Utopie und Wahnsinn“ ist eben auch das Scheitern der Revolution an ihrer eigenen Blutrünstigkeit. Mafia und Müllskandal, Korruption und Gewalt, Menschen wie Fenella und ihr Bruder Masaniello, die ob der Aussichtslosigkeit ihres Kampfes dem Wahnsinn verfallen, gebe es schließlich auch im Europa des 21. Jahrhunderts. Der Vorverkauf stimmt optimistisch: Die Premierengäste kommen, logisch, aus Brüssel, Großbritannien und ganz Deutschland.
Ausstatter Jan Steigert hat für die große Dessauer Bühne ein imposantes Schiff bauen lassen. Auf dem Mitschnitt, der in zwei Vorstellungen entstehen und als DVD erscheinen soll, werden zudem bunte Container im Baukastenprinzip zu sehen sein: Portici ist mithin ein Küstenort, die Oper spielt im Hafen. „Wir setzen ein, was wir haben“, verspricht Bücker: Seiten-, Vorder- und Hinterbühne, Portal, Drehscheibe, Schnürböden. Die neue Übertitelungsanlage.
Himmel und Meer, Vulkan und Horizont werden in aufwändigen Videoprojektionen eingespielt.
Endprobenwoche. An diesem Nachmittag werden Ensembleszenen musikalisch probiert. Der Regisseur ist nicht dabei, lobt im Gespräch gleichwohl die erfreuliche erste Zusammenarbeit mit dem „sehr konzentrierten, spielfreudigen“ Opernchor. Für den ist die Produktion eine Herausforderung: Viele Auftritte, viel Fortissimo, viele Takt- und Tempowechsel. Noch dazu in der französischen Originalsprache, zum ersten Mal. Chordirektor Helmut Sonne gibt aus der ersten Zuschauerreihe Achtungszeichen und Einsätze. Im Saal prüft Kapellmeister Wolfgang Kluge die Akustik, bespricht sich mit Generalmusikdirektor Antony Hermus.
An seiner musikalischen Leitung macht Bücker – er inszenierte schon den „Freischütz“, den „Wildschütz“ und „Rusalka“, drei Händelopern und, sogar, das „Weiße Rössl“ – den für ihn maßgeblichen Unterschied zum Sprechtheater fest. Der Musik sei die Emotion eingeschrieben, Schauspiel „erst einmal nur Papier“. Und schließlich habe die „Stumme von Portici“ doch alles, was eine gute Oper ausmache: Kurzweil und Ohrwürmer. Anrührende Momente, große „Up-tempo-Nummern“, eine Liebesgeschichte – Leidenschaft und Revolte also. Nur ein Happy End hat sie nicht.
aus: Neues Deutschland, 10.4.2010
André Bücker, Generalintendant des Anhaltischen Theaters Dessau-Roßlau, über Zivilisation, sterbende Landstriche und das Flicken von Schlaglöchern
André Bücker wurde 1969 in Harderberg (Niedersachsen) geboren. Er studierte Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften, Geschichte und Philosophie in Bochum. Nach mehreren Regieassistenzen und eigenen Inszenierungen war er von 1998 bis 2000 Hausregisseur, leitender Dramaturg und Stellvertreter des Intendanten an der Landesbühne Niedersachsen Nord in Wilhelmshaven, später freier Regisseur. 2005 wurde er Intendant des Nordharzer Städtebundtheaters Halberstadt/Quedlinburg, 2009 Generalintendant des Anhaltischen Theaters Dessau.
ND: Herr Bücker, Stadttheater ist ...?
Brücker: ... Mittelpunkt des städtischen Lebens. Hier in Dessau-Roßlau sogar schon in sehr langer Tradition: Unsere Philharmonie ist 243 alt, das Theater selbst befindet sich in der 215. Spielzeit. Also: Wir reden nicht über irgendetwas!
Wir reden aus einem ernsten Grund: Noch wird das Anhaltische Theater jährlich mit 15 Millionen Euro gefördert, von Stadt und Land etwa zu gleichen Teilen. Die Stadt muss sparen und will die Förderung ab 2013 halbieren. Was würde das bedeuten?
Es würde bedeuten, dass auch das Land Sachsen-Anhalt seine Förderung halbiert. Dies wiederum würde bedeuten, dass wir pro Jahr sieben bis acht Millionen Euro weniger zur Verfügung hätten. Ein Ensemble- und ein Vier-Sparten-Theater, wir wir es heute haben, wäre dann nicht mehr möglich. Wir könnten keine Haustarife mehr zahlen, müssten zig Leute entlassen. Die Eigeneinnahmen, die wir heute noch erwirtschaften – immerhin begrüßen wir pro Jahr 200 000 Besucher –, würden dramatisch sinken. Da muss man dann nicht mehr darüber nachdenken, ob man eventuell eine Sparte schließt. Dann ist das Theater zu!
In diesem Jahr wurde der Welttheatertag am 27. März in Deutschland auch als Protesttag begangen: In Wuppertal, wo das Stadttheater ebenfalls existenziell bedroht ist, erhoben etwa 60 Theater die Stimmen. Dessau-Roßlau war dabei.
Wir waren mit einem Auszug aus dem Stücke »Milarepa« von Érik-Emmanuel Schmitt, inszeniert von Andrea Moses, vertreten. Mit einem Monolog über das Ertragen und einem Wut-Monolog: Ein Mann muss Geschichten wieder und wieder erzählen. Somit tut er letztlich das, was die originäre Aufgabe von Theater ist: Geschichten immer wieder erzählen, sie an die nächste Generation weitergeben, sie im kollektiven Gedächtnis behalten, sie pflegen und weiterdenken. Wir fanden: Das passt in Wuppertal.
Wie war Ihr Gefühl?
Ich selbst war nicht dabei. Aber Andrea Moses erzählte, es sei eine tolle Atmosphäre gewesen. Ich kenne solche Veranstaltungen. Das Gefühl schwankt zwischen Euphorie und Melancholie. Natürlich hofft man, noch etwas abwenden zu können. Zugleich fürchtet man, dass die Entscheidung nicht in der eigenen Hand liegt. Man darf aber festhalten: Noch nie hat es in Deutschland eine solche Veranstaltung mit so vielen Beteiligten, mit so vielen Theatern gegeben.
Nie zuvor waren Stadttheater so bedroht, Kommunen so in die Enge getrieben?
Jetzt ist die Krise massiv da. Die Kommunen sind am Ende, sie bluten aus. Das Problem besteht darin, dass der Bund alles dafür tut, diese Entwicklung voranzutreiben – ich sage nur »Wachstumsbeschleunigungsgesetz«. Dabei sind es die Kommunen, die in der Fläche die wahren Träger des kulturellen Lebens sind, und bisher schultern sie die Hauptlast. Aber sie werden sozusagen stranguliert und können ihren Aufgaben nicht mehr nachkommen. Kommunale Selbstverwaltung ist nur noch ein Popanz. Was es brauchte, ist ein Solidarpakt, um Kulturhilfefonds einzurichten oder ein Entschuldungsprogramm für die Kommunen aufzulegen.
Woher soll das Geld kommen?
Ja, wo kommt es denn bei den Banken her? Allein die 3,6 Milliarden, die der Freistaat Bayern in seine Landesbank gepumpt hat, würden alle Theater Deutschlands für zwei Jahre finanzieren. Geld scheint doch da zu sein. Die Frage ist, wofür man es ausgibt. Abwrackprämie, Geschenke für Hotels und die 15 Milliarden, die benötigt werden, um die Schlaglöcher zu befüllen, welche der Winter gerissen hat, die werden wir auch noch irgendwo auftreiben. Da bin ich ganz sicher. Aber interessanterweise wird dann versucht, kommunale Haushalte zu sanieren, indem man den Menschen vor Ort die Kultur kaputtschlägt. Mit Zivilisation hat das nichts zu tun.
Lassen Sie uns auf die spezielle Situation in Dessau-Roßlau zurückkommen: Eingangs sprachen Sie vom Theater als kulturellem Mittelpunkt städtischen Lebens. Wie sieht das bei Ihnen konkret aus?
Unser Theater ist Ort der Diskussion, der ästhetischen Auseinandersetzung, ein politischer Ort, Ort der Selbstvergewisserung einer Stadt, also ein Ort, wo sich städtische Identität manifestiert. Es ist ein Bildungsort mit weitverzweigten Aktivitäten und Programmen – ob für Kinder, Jugendliche oder Senioren.
Bleiben wir bei der Bildung.
Zunächst erreichen wir Tausende von Schülern über unsere Aufführungen, auch via Schülertickets. Auf dem Spielplan stehen zum Beispiel »Der Kick« von Andres Veiel und Gesine Schmidt, jenes Dokumentarstück nach dem Fall in Potzlow, wo drei Jugendliche bestialisch ihren Kumpel umbrachten, und die Monooper »Das Tagebuch der Anne Frank«. Für die kleineren Kinder haben wir eine Kinderoper im Programm und für die ganz Kleinen Veranstaltungen mit dem Puppentheater oder Konzerte – musikalische Schnitzeljagden, Kuscheltier-Konzerte.
Wir erreichen Kinder und Jugendliche aber auch über die musikalische Früherziehung. Unsere Orchestermusiker gehen in Schulklassen, vermitteln ihnen den ersten Kontakt mit Instrumenten, sind als Lehrer in den Musikschulen tätig. Wenn es das Theater nicht mehr gäbe, blieben auch die Orchestermusiker nicht hier, die Musikschulen hätten keine Lehrer mehr.
Bisher wendet die Stadt noch 12,5 Prozent ihres Haushalts für Kultur auf – im Bundesvergleich ist das überdurchschnittlich viel.
Das liegt daran, dass es hier überdurchschnittlich viel Kultur gibt, die gepflegt, erhalten und vielleicht auch entwickelt werden will. Das kostet natürlich viel Geld. Aber dieser kulturelle Reichtum ist doch kein Problem, sondern eigentlich etwas Fantastisches. Und ich bin überzeugt, die einzige Möglichkeit dieser Kommune, sich für die Zukunft aufzustellen, besteht darin, auf ihre Ressourcen zu setzen. Und das ist nun mal die Kultur: Dessau-Roßlau hat nicht nur ein altes Stadttheater, UNESCO-Welterbestätten wie das Bauhaus und das Dessau-Wörlitzer-Gartenreich, es hat nicht nur das Kurt-Weill-Fest, sondern Bibliotheken, Sportvereine – das alles gehört dazu.
Nun sieht der städtische Sparplan vor, ab 2013 nicht nur die Theatermittel zu kürzen, sondern insgesamt 13,5 Millionen aus dem Haushalt zu streichen – die Folgen würden vom Stellenabbau in der Verwaltung bis zur Schließung von Kultureinrichtungen und Sportstätten reichen. Sie sehen Schwarz für die Region?
Es steht mehr auf dem Spiel als ein traditionsreiches Theater, viel mehr. Es geht um eine Infrastruktur, die es Menschen möglich macht, hier zu leben und leben zu wollen. Wenn man diese Politik fortsetzt, alles Mögliche zu subventionieren, nur nicht die Kultur im weitesten Sinne, dann gibt man ganze Landstriche auf.
Dessau zählt heute noch 88 000 Einwohner, seit 1989 sind mehr als ein Viertel seiner Bürger abgewandert. Das reiche kulturelle Angebot hat sie nicht halten können – sie brauchten Arbeit.
Richtig, Menschen gehen weg, wenn sie keine Arbeit und keine Lebensperspektive haben. Aber es werden noch mehr weggehen, wenn die Kultur dicht macht. Und dann wird sich hier auch keiner mehr ansiedeln, auch keine Industrie. Aber gut, das wäre zumindest eine Entscheidung. Man könnte sagen: Wir sehen jetzt schon keine Zukunft mehr, wir flicken keine Schlaglöcher mehr, machen das Theater zu und nehmen in Kauf, dass Dessau-Roßlau und die Region Anhalt in den nächsten 30 Jahren noch mal 25 000 Einwohner verlieren. Wir geben den Landstrich auf. Und die, die noch hier wohnen, können hier sterben oder weggehen. Das könnte man ja sagen. Was aber nicht mehr geht, auch das wird jetzt deutlich, ist dieses Durchgewurschtel. Man kann nicht mehr sagen: Wir schaffen das schon irgendwie.
Gestern war ich auf dem Junkers-Gelände. Ein fantastisches bauhistorisches Erbe! Dazu kommt die Technikgeschichte – Anfang 20. Jahrhundert, technischer Aufbruch, Innovation, Wissenschaft, Forschung, Moderne. Das Gelände ist verrottet. Jetzt, da es wahrscheinlich kaum noch zu retten ist, will man es abreißen – mit der Begründung, dort eventuell Firmen anzusiedeln. Das ist zutiefst lächerlich. Es gibt genug freiliegende Industrie- oder Gewerbeflächen in Dessau. Aber nach der Wende hätte man Betriebe, die man rund um Dessau auf der grünen Wiese untergebracht hat, forschungs- und wissenschaftsstandortmäßig auf dem Junkers-Gelände konzentrieren, einen Traditionsstandort entwickeln können. Das ist nicht passiert. Und plötzlich ist eine Stadt wie Magdeburg, die in dieser Hinsicht überhaupt keine Tradition hat, Stadt der Wissenschaft.
Vielleicht hatten die Stadtväter nach der Wende andere Sorgen?
Zwanzig Jahre danach sollte man klüger geworden sein. Sehen Sie, wir haben zwar das Bauhaus, die Hochschule Anhalt und das Umweltbundesamt in der Stadt, große Einrichtungen mit vielen Mitarbeitern, aber die wenigsten davon wohnen auch hier: Berlin ist nicht weit weg. Und Dessau ist eben auf den ersten Blick nicht die attraktivste Stadt.
Sie selbst wohnen in Dessau-Roßlau?
Ja. Ich lebe und arbeite gern hier. Auch deshalb, weil ich hier Partner habe. Philipp Oswalt hat ja als Direktor des Bauhauses angefangen und Michael Kaufmann als Intendant des Kurt-Weill-Festes. Wir sind ein gutes Gespann. Gemeinsam versuchen wir, den Zusammenhang von Kultur und Lebensqualität stärker ins Bewusstsein der Stadt zu rücken. Und seit die Bürgerinitiative »Land braucht Stadt« entstand, wird die Thematik auch aktiver und kontroverser diskutiert.
Interview: Christina Matte
aus: Schweinfurter Tagblatt, Kulturbeilage 2/10
André Bücker ist seit der Spielzeit 2009/2010 Nachfolger von Johannes Felsenstein als Generalintendant des Anhaltischen Theaters Dessau, das seit fünf Jahren regelmäßig in Schweinfurt gastiert. Der Regisseur der Händel-Oper „Serse“, die in Januar viermal hier zu sehen war, im Gespräch über die Lage der städtischen Theater in Zeiten der Krise, die Neuausrichtung in Dessau und das Glück, Opern zu inszenieren.
Das Gespräch führte Mathias Wiedemann.
Frage: 2010 ist angekündigt als großes Jahr der Schmerzen für Theater und Museen. Längst kursieren Listen von Schließung bedrohter Häuser – was bemerken Sie davon in Dessau?
André Bücker: Der Druck ist natürlich immer da. Aber den kenne ich schon seit Jahren. Ich habe 1998 in Wilhelmshaven als stellvertretender Intendant angefangen, das war eine Landesbühne, und da gab es auch schon finanziellen Druck. In Halberstadt, wo ich dreieinhalb Jahre Intendant war, habe ich ständig damit zu tun gehabt. Und in Dessau ist es auch so.Wie äußert sich das im Alltag?
Bücker: Wir arbeiten unter Haustarifvertrag-Bedingungen, das heißt, die Leute müssen in weniger Arbeitszeit für weniger Geld genauso viel, oder möglichst noch mehr, leisten wie vorher. Die finanzielle Situation ist insgesamt dramatisch. Aber es gehört natürlich zum Theatermachen dazu, gerade wenn man ein Stadttheater leitet, sich mit der Finanzierungslage auseinanderzusetzen.Welche Möglichkeiten hat ein Intendant denn, außer für möglichst volle Häuser zu sorgen? Spielen denn Sponsoren eine Rolle?
Bücker: Ach, das hält sich in Grenzen. Dessau ist nun keine Region mit großer Industrie, das sind eher mittelständische Unternehmen. Dass man Partner findet, die in größerem Umfang Beiträge leisten, ist sowieso eher selten. Ich bin auch überzeugter Verfechter des deutschen Stadttheater-Systems, das von der öffentlichen Hand finanziert wird. Nicht, weil es bequem ist, sondern, weil es Möglichkeiten eröffnet. Und natürlich auch, weil man dadurch günstige Eintrittskarten für Alle anbieten kann. Es wird ja bei den Diskussionen gerne vergessen, dass das ja ein Hauptanliegen dieses Systems ist.Was bedeutet das aber für den Intendanten?
Bücker: Ich glaube, man muss das Ganze künstlerisch lösen. Man muss sich mit dem legitimieren, was man tut. Man muss die Leute ins Theater bringen und begeistern. Man muss das Theater kommunizieren in eine Stadt, man muss sich aber auch als Teil dieses Ortes begreifen. Wir dürfen uns Experimente leisten, wir müssen aber die Leute erreichen. Und wenn man das überzeugend tut, muss einem um die Zukunft nicht unbedingt bange sein.A propos Kommunikation: Zu Ihrem Amtsantritt 2009 steht auf der Internet-Seite des Theaters eher lakonisch, Sie hätten das Haus künstlerisch neu ausgerichtet, vor allem mit personellen Neubesetzungen. Es wäre jetzt nicht so spannend, die obligatorische Frage nach Ihrem Vorgänger Johannes Felsenstein zu stellen. Aber was bedeutet „Neuausrichtung“ denn konkret?
Bücker: Das ist ein personeller Neuanfang, wie er bei einem Intendanten-Wechsel durchaus üblich ist. Besonders, wenn ein Vorgänger sehr, sehr lang im Amt war – Felsenstein war 18 Jahre da. Da haben sich dann einfach Strukturen gebildet, die nicht mehr zeitgemäß sind. Aber dass mit dem neuen Chef auch neues Personal kommt, das gibt es ja auch in der Politik oder der Wirtschaft. Und mit dem neuen Personal kommen dann eben auch andere Schwerpunkte. Stichwort Kommunikation: Wir gehen anders auf die Leute vor Ort zu, wir machen viele Projekte um das eigentliche Bühnengeschehen herum, um die Dessauer auf allen Ebenen anzusprechen. Das gab es vorher so nicht.In Dessau wurde immer alles auf Deutsch gesungen. Wird sich das ändern?
Bücker: Das ändert sich! Wir werden etwa italienische Oper in Originalsprache machen. Das erklärt sich eigentlich von selbst, das ist musikalisch notwendig, das hat eine ganz andere Kraft.Dessau hatte seit einigen Jahren ein Kooperationsmodell mit der Ballett-Compagnie von Gregor Seyffert – die war auch in Schweinfurt zu sehen. Gibt es diese Kooperation noch?
Bücker: Nein, diese Kooperation besteht nicht mehr. Das hängt auch mit dem Intendanten-Wechsel zusammen. Es gibt jetzt einen neuen Chef-Choreografen, Tomasz Kajdanski, der zuletzt in Eisenach große Erfolge gefeiert hat. Er macht unglaublich sinnliches und hochenergetisches Ballett mit klassischer Formensprache aber auch modernen Ansätzen. Und er ist ein großer Geschichtenerzähler. Seine erste Premiere mit „Lulu“ war ein fulminanter Erfolg. Dessau ist ein Theater mit großer Tanz-Tradition, und an die knüpft der neue Ballett-Direktor an.Seit einigen Jahren gastiert Dessau immer wieder in Schweinfurt – bedeutet Ihr Besuch hier, dass diese Kooperation fortgesetzt wird?
Bücker: Wir wollen, dass diese erfolgreiche Kooperation, die jetzt ins fünfte Jahr geht, weitergeht. Das wäre schön.Welche Bedeutung haben Abstecher für Sie – müssen oder wollen Sie die machen?
Bücker: Wir sind ja eigentlich kein Abstecher-Theater, sondern ein klassisches Stadttheater. Das heißt natürlich, dass wir einen Großteil unserer Vorstellungen zu Hause spielen. Aber es ist natürlich immer schön für Künstler, wenn sie mal rauskommen, und auch mal erleben, wie das Publikum woanders reagiert. Und dann ist das natürlich auch finanziell interessant.Bringen denn solche Ausflüge finanziell etwas?
Bücker: Na ja, es muss sich insofern lohnen, als man nicht draufzahlt, das ist klar. Das große Geld verdient man damit nicht, aber es ist für beide Seiten gut. Es bleibt was fürs Theater über, und es ist schön für die Künstler. Wir machen allerdings nur wenige, ausgesuchte Gastspiele, weil es allein von der Dimension der Dessauer Bühne her schwierig ist, woanders aufzubauen.Die Bühne in Dessau ist riesig.
Bücker: Ja, Dessau ist ein riesiges Theater, da schließen sich viele Projekte außerhalb von vorneherein aus. Aber für Bühnen, mit denen wir eine längere Zusammenarbeit haben, finden wir immer eine Lösung und passen schon mal ein Bühnenbild an.Welche Rolle spielen die neuen Medien? Im Internet-Forum des Theaters wird ja ziemlich rege diskutiert.
Bücker: Das schaue ich mir natürlich an. Ich will ja wissen, was die Leute denken. Es ist überhaupt das Schönste, wenn die Menschen teilnehmen an dem, was in ihrem Theater passiert. Das Dessauer Theater ist in seiner 215. Spielzeit, die Menschen hier sind mit ihrem Theater verbunden, und das spürt man natürlich auch. Das ist wunderbar. Aber natürlich gibt es kontroverse Meinungen. Das Ding, das alle toll finden, ist noch nicht erfunden. Das schlechteste Theater ist das, das allen egal ist.Sie stammen aus Niedersachsen – wie sind Sie in Dessau aufgenommen worden? Gibt es noch eine Ost-West-Problematik?
Bücker: Das habe ich nicht so empfunden. Viele wissen auch gar nicht mehr, dass ich aus dem Westen komme. Ich bin schon sehr lange im Osten unterwegs. Ich habe fürs Kunstfest Weimar gearbeitet in den 90ern. Ich war seit 1999 ständig als Regisseur in Theatern im Osten. Ich war dreieinhalb Jahre im selben Bundesland schon Intendant. Ich kenne die Mentalität der Leute und bin sehr gerne hier. Mich interessiert diese Kulturlandschaft, und ich glaube, es ist wichtig, dass die Leute das spüren.Wir haben gerade ausgiebig 20 Jahre Mauerfall gefeiert. Ist die deutsche Teilung noch ein Thema? Begreifen sich die Leute noch als Ossis oder eben Wessis?
Bücker: Es ist schon noch ein Thema, weil man den Unterschied eben immer noch deutlich merkt. Die Brüche in den Biografien der Menschen und in den Geschichten der Städte manifestieren sich sehr deutlich. Die Sozialisation in der DDR war einfach eine deutlich andere, und das spürt man nach wie vor.Ist das noch ein Thema fürs Theater?
Bücker: Wir haben das mit einem großen Projekt in der Stadt thematisiert, wo wir die Bürger befragt haben – wie war das, was waren die Vorgänge in Dessau zu Wendezeiten? Und wir haben vor allem gefragt, wie ist es heute? Was wissen die Nachgeborenen von der DDR? Und damit verbunden die Frage, wofür würden heute 18-Jährige auf die Straße gehen? Was bedeutet Freiheit, die Möglichkeit, seine Meinung sagen zu dürfen?In Schweinfurt war Ihre „Xerxes“-Inszenierung zu sehen. Welche Rolle spielt für Sie als Regisseur die Musik?
Bücker: Eine gewaltige natürlich. Ich bin ein großer Händel-Fan. Ich habe drei Opern von ihm inszeniert. Diese barocke Form ist ja sehr speziell. Die ganzen Wiederholungen – da muss einem ja auch was dazu einfallen. Das sind ja nicht durchgängige psychologische Vorgänge. Sondern die Rezitative bringen die Handlung voran, und die Arien erklären die Affekte, also die Emotionen. Aber genau diese Form reizt mich sehr.Wie knacken Sie diese Statik?
Bücker: Ich erfinde Vorgänge.Sie erfinden Vorgänge?
Bücker: Ja. Die Geschichte ist ja vorhanden, und man muss die Vorgänge, die in den Rezitativen stattfinden, mit Leben füllen und dann für die Arien auch noch eine Form finden. Ich mache dann eine durchgängig erzählte Geschichte daraus.Also die Zeit bleibt nicht einfach während der Arien stehen?
Bücker: Genau das eben nicht. Vielleicht könnte man „psychologisieren“ dazu sagen. Mich interessiert einfach, was die Figuren antreibt. Ich will sie in ihren Nöten begreifen – die leiden ja alle.Sonst wäre es ja auch keine Oper.
Bücker: Eben. Man kann sich natürlich hinstellen und in der Arie diesen einen Satz in 40 wunderschönen Variationen singen. Und ich will dem Sänger einen Grund geben, warum der das eben 40 mal singt. Er singt das ja nicht nur, weil es schön ist.Ihr „Xerxes“ ist eine komplett durchgestylte Inszenierung. Wie sehr nimmt der Regisseur Einfluss auf den Look einer Aufführung?
Bücker: Sehr stark natürlich. Man sucht sich als Regisseur einen Bühnenbildner zu dem Gedanken, den man für das Stück hat. Man arbeitet dann gemeinsam daran, und wie es dann letztlich aussieht, ist Ergebnis einer Entwicklung. Die Ästhetik spielt eine große Rolle. Und in einer Barockoper ist natürlich der Style sehr wichtig, auch wenn die Kostüme modern sind.Machen Sie lieber Musik- oder lieber Sprechtheater?
Bücker: Ich mag beides wahnsinnig gern. Ich bin ja erst später zum Musiktheater gekommen. Das ist eine völlig andere Arbeitsweise als beim Sprechtheater. Im Musiktheater ist sehr viel vorgegeben. Der größte Unterschied ist: Im Sprechtheater muss man sich die Zeit erfinden. In der Musik ist sie da. In der Musik liegen auch schon die Stimmungen.Da kann man nicht einfach gegen an inszenieren.
Bücker: Das geht in den meisten Fällen extrem schief. Im Schauspiel muss man das alles erfinden. Da kann man Figuren auch mal gegen die Strich bürsten oder anders besetzen, als sie im Textbuch stehen. Man ist wesentlich freier. Aber es ist auch anstrengender als Oper, wo man dieses wunderbare Gerüst der Musik hat. Aber ich glaube, ich bin jemand, der sehr aus dem Geist des Werkes arbeitet und sich sowieso auf die Musik einlässt. Das gilt aber auch für das Schauspiel: Ich arbeite sehr aus den Texten heraus.
Der Präsident des Deutschen Bundestages Norbert Lammert besuchte am 04.12.2009 die Premiere von Leonard Bernsteins CANDIDE im Anhaltischen Theater.
Der Intendant des Anhaltisches Theaters blickt im Gespräch auf die ersten 100 Tage im Amt zurück
Seit 100 Tagen ist der neue Intendant des Anhaltischen Theaters André Bücker im Amt. Über den Start, Veränderungen am Theater, Reaktionen des Publikums und Zukunftspläne sprach Thomas Steinberg mit ihm.
Unter den Besucherkommentaren auf der Website des Anhaltischen Theaters findet sich die Klage, wohl mehr am hemdsärmeligen Publikum interessiert zu sein denn am treuen. Herr Bücker, wollen Sie die Abendroben aus dem Theater verbannen?
Bücker: (lacht) Nein, überhaupt nicht, ich hab auch nicht den Eindruck, dass die Abendrobe verdrängt ist. Wir haben zum Beispiel die Operngala - übrigens zwei Mal gespielt, zwei Mal ausverkauft - wo es durchaus festlicher zugeht, aber auch junge Leute kommen, und die sind, glaube ich, ein bisschen gemeint mit dem Begriff hemdsärmelig. Wir wollen das Festliche weder verbannen noch das Hemdsärmlige vorschreiben: Aber die Leute gehen heute ja auch anders in Theater, sie kommen, wegen dem was es zu sehen gibt.
Ohne die alten Geschichten aufzurollen - dennoch: der Start war für die Neuen alles andere als unkompliziert. Es gab sehr viel Skepsis, nicht zuletzt im Haus. Wie schätzen Sie heute das Klima im Theater ein?
Bücker: Als ausgezeichnet. Wir haben das Premierenwochenende auf die Agenda gehoben, um zu zeigen, hallo, hier sind wir, hier passiert was Neues. Das hatte Wirkung nach außen und innen. Es hat das Haus an die Grenzen der Belastbarkeit gebracht, aber es haben alle Mitarbeiter an einem Strang gezogen. Wir haben gemeinsam gearbeitet und konnten uns gemeinsam freuen. Ich bin sehr stolz darauf, was dieses Haus geleistet hat, und glaube, das sehen fast alle Mitarbeiter genauso.
Skeptisch zeigten sich auch Teile des Stammpublikums. Bei der Premiere des "Lohengrin" konnte man den Eindruck gewinnen, die Buhrufe galten nicht nur der Regisseurin Andrea Moses, sondern insgesamt den Veränderungen am Theater. War der Lohengrin gedacht als ein bewusster Bruch mit der Ära Felsenstein?
Bücker: Das würde ich überhaupt nicht so sehen. Es gab keinerlei Kommentarebene in der Inszenierung zu dem, was vorher hier auf der Bühne stattgefunden hat. Ich finde, der Lohengrin ist eine handwerklich sehr gut gemachte, kluge Inszenierung, hervorragend musiziert mit tollen Sängern - dieser Lohengrin steht für sich. Diejenigen, die den Lohengrin kritisieren, haben anscheinend die Bravo-Rufe nicht gehört. Die Oper verkauft sich hervorragend, die Leute kommen auch aus Berlin, Leipzig, Halle, teilweise aus Süddeutschland, aus Österreich. Diese Aufführung hat eine große Kraft entwickelt und eine enorme Aufmerksamkeit erregt in der Theaterlandschaft, was natürlich positiv auf die Stadt zurückfällt.
In den Kritiken der regionalen Medien wird derzeit immer wieder Bezug genommen auf die jüngere Vergangenheit, meist, um mit ihr abzurechnen. Wie gehen Sie damit um?
Bücker: Ich mache nicht ein bestimmtes Theater, weil es vorher ein anderes gegeben hat. Die Vergangenheit interessiert mich als die Geschichte eines Ortes, dessen kulturelle Linien und Wurzeln, nicht als eine bestimmte Theaterästhetik, die man aufarbeiten müsste oder gegen die man anarbeiten müsste. Es gibt gewisse Traditionslinien in Dessau: Wagner, Weill, überhaupt das große Musiktheater - das wollen die Leute hier sehen. Das zu zeigen, ist auch unserer Anspruch.
Was auffällt: Mit den "Gesängen aus 1001 deutschen Nacht" ist das Theater in die Stadt gegangen, beim ersten Sinfoniekonzert hat Antony Hermus für Dvoráks "Te Deum" alle größeren Laien-Chöre der Stadt eingeladen. Waren das einmalige Aktionen oder ist dies Programm, einerseits das Gehäuse Theater zu verlassen, andererseits Leute als Mitwirkende ins Theater zu holen, die auch nur im entferntesten etwas damit zu tun haben könnten?
Bücker: Ja, das ist durchaus programmatisch. Wir werden in der Spielzeit noch ein Schauspielprojekt haben, bei dem Laien und Profis zusammen auf der Bühne stehen, wir hatten das 89jetzt!-Projekt, wo wir mit Menschen in der Stadt Kontakt gesucht hatten, wir werden ein Scratch-Konzert haben, wo Sangeswillige und -wütige gemeinsam mit unserem Generalmusikdirektor Antony Hermus die Carmina Burana einstudieren…
…innerhalb von 24 Stunden…
Bücker: …genau, innerhalb von 24 Stunden. Diese Beteiligungsprojekte - ob nun Simon Rattle mit "Rhythm is it" oder Rimini-Protokoll mit den Experten des Alltags - haben ja immer mehr Einzug gehalten, gerade bei Stadttheatern. Sie sollen aber in keiner Weise die festliche Opernaufführung ersetzen, aber es ist eine Bereicherung im Diskurs über das, was Theater sein soll. Theater hat einen Bildungsauftrag und kann eine gesellschaftliche Funktion wahrnehmen, ein Ort des Diskurses und der Diskussion sein über zeitgenössische Themen, über Ästhetik.
Und dazu müssen wir die Menschen erreichen und faszinieren, was nicht nur über Zuschauen, sondern ebenso über Mitmachen funktioniert, wie sich in den theaterpädagogischen Programmen zeigt. Da passiert unheimlich viel: so wie es wertvoll ist, wenn Kinder ein Instrument erlernen, ist es wichtig für die Persönlichkeitsentwicklung, wenn man Theater spielt, sich in andere Figuren, in andere Menschen hineinversetzt.
Wie versucht das Schauspiel das Verhältnis zwischen dem Großen Haus und dem Alten Theater auszusteuern? Welche Funktionen haben beide Bühnen?
Bücker: Die große Bühne ist eine große handwerkliche Herausforderung, sowohl für die Schauspieler als auch für den Regisseur. Schauspiel muss natürlich seinen Platz auf der großen Bühne haben, und ich wünsche mir, dass wir fürs Schauspiel noch mehr Leute begeistern können. Gerade hier ist es wichtig, die großen Klassiker zu zeigen, auch das Märchen mit seiner großen Tradition in Dessau.
Das Alte Theater wiederum ist eher eine Experimentierstätte für Formate, die man auf der großen Bühne gar nicht machen kann, für Gegenwartsstücke, zeitbezogenes Theater, für Uraufführungen wie Einar Schleefs "Abschlussfeier". Ich möchte das Alte Theater noch stärker zu einem Ort entwickeln, wo man einfach so hingeht, abends vorbeischaut und guckt: ist was los? Oder man einfach ein Bier trinkt.
Im Alten Theater laufen mit der Mono-Oper "Anne Frank" und "Der Kick" Stücke, bei denen der Unterhaltungscharakter ganz klar im Hintergrund steht. Wie geht das Publikum damit um?
Bücker: Das ist interessant: Gerade "Der Kick" läuft gut, vor allem durch Schulen, aber auch im Abendprogramm. Ich denke, es gibt neben dem Bedürfnis nach Unterhaltung auch ein großes Bedürfnis nach der Beschäftigung mit den ernsten, wichtigen Themen auf dem Theater.
Das Puppentheater hatte zu Beginn der Saison noch etwas Schonung, ist jetzt mit der Weihnachtszeit verstärkt gefragt. Wie steht es um dessen Zukunft, da ja die Kooperation mit Magdeburg auslaufen soll?
Bücker: Die Kooperation besteht in dieser Spielzeit, und das Puppentheater wird auf jeden Fall bestehen bleiben, auch in einer Zusammenarbeit mit Magdeburg. Wie eng diese sein wird, wird sich zeigen.
Das Theater zeigt sich jetzt häufiger mit Formaten, die es bislang eher selten gab, etwa mit Talk-Shows. Doch nach dem Auftakt zur Reihe "Contrapunkt - Talk für Toleranz und Demokratie"" der ja von Publikum…
Bücker: …dazu möchte ich lieber nichts sagen, ach Gott, furchtbar…
…als Debakel empfunden wurde, muss ich fragen: Es wird ja wohl keine Fortsetzung geben?
Bücker: Ja, scheitern als Chance. Da sehe ich nach dem Auftakt keine Chance, es unter dem Label und in dieser Konstellation weiterzuführen.
Frage zum Funk-Projekt - das erscheint momentan leicht verrauscht.
(lacht) Ja, das hat Funk als analoges Sendemedium so an sich. Es ist ein großartiges Projekt, vor allem, weil wir dabei so eng mit dem Bauhaus zusammenarbeiten.
Es verästelt sich fast unbemerkt in ganz viele andere Veranstaltungen, deshalb ist Funk auf den ersten Blick nicht scharf umrissen erkennbar. Hier, zum Beispiel beim Bauhaus-Tanzfestival, gibt es zwei Projekte, die maßgeblich durch Funk initiiert oder inspiriert sind. Surpremalevich gehört dazu und auch das, was Andrea Moses auf der Bauhausbühne macht; es gab diverse Konzepte, Lesungen, Interviews; das Tolle ist die immer stärkere Bindung vor Ort, an Akteure vor Ort. "Hermes in der Stadt" - eine Tanzperformance mit dem Bauhaus.
Stichwort Tanztheater: Auch hier ist eine deutlich andere künstlerische Handschrift erkennbar; wie hat das Publikum reagiert? Gregor Seyffert war ja außerordentlich beliebt mit seinen Arbeiten.
Bücker: Wir haben insgesamt einen scharfen Schnitt gemacht und es sind viel diskutierte Wechsel vollzogen worden, auch strukturelle, was anfangs teilweise ja massiv skeptisch aufgenommen wurde. Das Schöne war, dass alle Sparten sich auf den Punkt hervorragend präpariert präsentieren konnten. Und da ist Tomasz Kajdanski unbedingt zu nennen mit seiner "Lulu", einem Stück mit hoher Energie, Erzähllust, mit einer großen Sinnlichkeit und mit einem phantastisch aufgelegten Orchester unter unserem Ersten Kapellmeister Daniel Carlberg, so dass klar wurde, es steht für sich und muss sich nicht an Vorgängern messen lassen.
Mit Irritation ist aufgenommen worden, dass es zwei, drei Wochen nach Spielzeitbeginn hieß: Moses geht - die leitende Regisseurin für Schauspiel und Musiktheater wird nach Stuttgart wechseln. Führt Herr Bücker schon Verhandlungen über eine neue Intendantenstelle?
Bücker: Na ja, Moses geht nicht ganz. Andrea Moses wechselt zur Spielzeit 2011 / 12 als Chefregisseurin an die Staatsoper nach Stuttgart, was phantastisch ist, wird dort zwei Inszenierungen machen und hier eine pro Jahr. Dieses Team, das sich hier gefunden hat ist großartig - das Zusammenspiel funktioniert sehr gut.
Der zweite Teil der Frage galt Ihnen.
Bücker: Mir? Ach, das hatte ich gar nicht verstanden. (lacht) Ich habe einen Vertrag bis 2013 und den werde ich erfüllen.
Süddeutsche Zeitung, 17.11.2009
"Es hat sich ausgeweimart, meine Herren", sagte Lyonel Feininger im Jahr 1925, "wir gehen jetzt dessauern." Mit diesem Satz werben seit einiger Zeit drei Zugereiste für einen Aufbruch in Dessau, einen Neubeginn mit den Mitteln der Kultur. Die drei haben etwa zur gleichen Zeit ihre Ämter in Dessau übernommen: Philipp Oswalt das Bauhaus, Michael Kaufmann das Kurt-Weill-Fest und André Bücker das Anhaltische Theater. Jetzt wollen sie gemeinsam "dessauern", laden andere zum Mittun ein. Nichts daran ist selbstverständlich und lange erprobt. Neu ist, dass sie kooperieren, dass am Theater neu begonnen wird, dass das Bauhaus sich überhaupt auf die Stadt einlässt. Neu aber ist vor allem, dass man in Dessau wieder einen Aufbruch wagt. Die Stadt, die vor zwei Jahren mit Roßlau vereinigt wurde, zählt heute nur noch 89 000 Einwohner. Seit 1989 ist jeder Vierte weggezogen, und ein Ende der Abwanderung ist bisher nicht abzusehen. Zu mächtig scheinen im mittelelbischen Auenland die Folgen der postrevolutionären Deindustrialisierung zu sein.
Dennoch gibt die Stadt etwa 12,5 Prozent ihres Haushalts für Kultur aus, etwa 20 Millionen Euro im Jahr. Das ist weit mehr als die im Bundesdurchschnitt üblichen drei bis acht Prozent. Welche Leistung, wie viel Trotz und Kulturbewusstsein dahinterstecken, versteht man, wenn man die Kulturnachrichten dieser Tage vernimmt. Hamburg etwa, nicht zuletzt für Pfeffersäcke berühmt, will im kommenden Jahr zehn Millionen einsparen (SZ vom 16. November); vor einem Spar-Tsunami warnte der Kulturrat; im Bundestag hat der Staatsminister Bernd Neumann die Kommunen und Länder beschworen: Nur geringe Summen ließen sich einsparen in der Kultur, die Schäden aber wären gewaltig und irreparabel. Man hört das Argument und nickt unwillkürlich, aber 20 Millionen Euro sind für Dessau-Roßlau keine geringe Summe. Die Summe ist höher als die Summe der Gewerbesteuereinnahmen, selbst in Boomjahren.
Gewiss, auch im mittelelbischen Auenland ist niemand auf Rosen gebettet. Es knirscht überall, weiß der neue, schwungvoll jugendlich wirkende Generalintendant André Bücker. Aber das tut seinem sehr entschlossenen Optimismus keinen Abbruch. Halb lustvoll, halb stolz weist er immer wieder auf die wunderbar lange Tradition hin. Unter seiner Leitung begann mit Wagner, Lessing und Schleef, mit "Lohengrin", "Nathan" und "Abschlussfeier" die 215. Spielzeit. Das Gebäude bietet etwa 1200 Plätze. Das ist sehr groß und gegen die Einwohnerzahl gehalten geradezu aberwitzig riesig. Aber Haus wie Ensemble sind auch etwas, auf das man stolz ist in der Stadt. Selbst Dessauer, die lange keine Vorstellung besucht haben, sprechen von ihrem Haus, von "unserem Theater". Als wieder einmal Haushaltsnot herrschte, war man sich im Stadtrat einig, das Theater zu schonen, soweit es geht. Das sind, mit Haustarif, keine paradiesischen Verhältnisse, aber wer mit Dessauern über ihr Theater redet, der begegnet jenem Bürgergeist, ohne den es nicht geht.
Im Land Brandenburg, in Frankfurt an der Oder etwa, rächen sich die Theaterschließungen der neunziger Jahre, von denen jede durch Not gut begründet war, jetzt schon grausam gründlich. Man wird die Folgen der Kurzsichtigkeit noch in Jahrzehnten spüren. Es fehlen Räume und Institutionen, an die eine Idee von Gemeinwohl sich heften könnte. Um diesen Verlust zu kompensieren, beauftragt man Marketing- und Eventagenturen, aber das hilft immer nur einen Sommer.
In Dessau blieb das Mehrspartenhaus, einschließlich Ballett und Puppentheater, erhalten. Der neue Intendant kann auf die mehr als 200 000 Besucher jährlich bauen. Der "Lohengrin" zum Auftakt ist begeistert gefeiert worden. André Bücker, zuvor Intendant in Halberstadt/Quedlinburg, will nun dem Schauspiel, auch dem Gegenwartsdrama in Dessau größere Auftritte bereiten.
Zu Spielzeitbeginn war auch eine Ausstellung mit Fotos aus der Region zu sehen - und manchen schien die Stadt nicht so schön, wie sie glaubten. So verwundet und reich an Brüchen, scharfen Gegensätzen sollte ihr Dessau sein? Die Erfahrungen der Menschen sollen im Theater zu Wort kommen, es solle, so Bücker, soziale Welten erforschen und "Diskussionsort für die Themen der Gegenwart" sein. Diskutiert wurden die Probleme der Gegenwart auch am Bauhaus, aber dies geschah meist in programmatischer Abkehr von der Stadt, in der die Bauhäusler 1925 eine Heimat gefunden hatten. Der neue Direktor der Stiftung, Philipp Oswalt, will vieles anders machen als sein Vorgänger: Streitlust statt akademischer Abgeklärtheit, Verankerung in der Stadt und in der Region sowie lustvolles Bewirtschaften touristischer Interessen - das wären einige der Stichworte.
All das kommt zusammen in dem Vorhaben, ein eigenes Besucher- und Ausstellungszentrum Bauhaus Dessau zu errichten. In jedem Jahr kommen 100 000 Besucher nach Dessau, um das Kunstschul-Gebäude von Walter Gropius und die Meisterhäuser zu besichtigen. Ein würdiges und vor allem funktionales Empfangsgebäude fehlt. Auch reicht der Platz nicht hin, die zweitgrößte Bauhaussammlung der Welt angemessen zu präsentieren. Über 25 000 Objekte verfügt man, gezeigt wird eine äußerst schmale Auswahl. Mehr lässt der Raum nicht zu.
Der Stiftungsrat wird in dieser Woche entscheiden, ob es anders werden kann, ob Dessau ein neues Ausstellungs- und Besucherzentrum erhalten soll. Mit einem Neubau bekäme Dessau eine ganz andere Stellung im Kreis der Bauhaus-Städte. In Weimar plant man die Errichtung eines neuen Bauhausmuseums, das Bauhaus-Archiv in Berlin, beruhend auf der von Hans Maria Wingler initiierten Sammlung, leidet unter finanziellen Problemen. Die lange geplante Erweiterung ist auf unbestimmte Zeit verschoben worden. Diese kann angesichts der Berliner Haushaltslage und der Vorlieben des regierenden Kulturbürgermeisters sehr lang werden. Vielleicht fände die Sammlung ihre Heimat in Dessau, wenn, ja wenn dort das neue Ausstellungs- und Besucherzentrum erstünde.
"Dessau ist die Stadt der Moderne", sagt Philipp Oswalt. "Hier liegt ihr Potential. Sie braucht einen Ort, an dem dieser Reichtum sichtbar wird." Hier könne sich die Region als "Kraftfeld der Avantgarde" präsentieren. An der Kreuzung, die zu diesem Zweck ins Auge gefasst wurde, stoßen die beiden Dessauer Weltkulturerbestätten aufeinander. Die Stiftung Bauhaus mit ihren Meisterhäusern, um deren Rekonstruktion gewiss noch gestritten werden wird, und das aufgeklärte Gartenreich von Dessau-Wörlitz.
Dies gehört zu den Besonderheiten, zur Einzigartigkeit Dessaus. Die Stadt besaß, still und folgenreich, über Jahrhunderte Avantgardecharakter. Das begann wohl mit Fürst Leopold von Anhalt-Dessau, dessen Exerzierkünste - er führte Gleichschritt, eisernen Ladestock und konzentriertes Pelotonfeuer ein - den Grund für Preußens Aufstieg und eine grundstürzende Modernisierung des Militärs legten. Mit dem Gartenreich, das Fürst Franz anlegen ließ, begann in Deutschland der moderne Klassizismus, einschließlich Neugotik und Landschaftsgarten. Als 1925 das Bauhaus nach Dessau kam, dank der Unterstützung von Sozialdemokraten und Hugo Junkers, hatte man in der Gegend also einige Erfahrung mit kulturellen Aufbruchsprojekten.
Seltsamerweise schien dies nach 1990 vergessen. Wer aus dem Bahnhof tritt, sieht sozialistische Moderne und kapitalistische Fertigteilurbanität um die Krone der Scheußlichkeit miteinander ringen. Ein Abriss von Einkaufszentren könnte der Stadt nur gut tun. Etwa 10 000 Wohnungen stehen leer. Umso erstaunlicher, umso erfreulicher wirkt nun das "Dessauern" der drei Neuen, die in dem parteilosen Oberbürgermeister Klemens Koschig, der einst für das Neue Forum am runden Tisch Roßlau saß, einen Unterstützer gefunden haben.
Leichter wird es nicht werden für die schrumpfende Stadt Dessau im armen Land Sachsen-Anhalt während der größten Wirtschaftskrise. Ein Solidarpakt zur Unterstützung der selbst in rosigen Zeiten überforderten Kommunen wäre jetzt zu fordern. Was Deutschland groß und liebenswürdig gemacht hat, sei es die Reformation, die Klassik, der Idealismus, entstammt kleinstädtischer Kultur. Unsere Zentren sind eben in erster Linie Wittenberg, Weimar, Wolfenbüttel, Meiningen und Marbach. In Dessau kann man nun ein kulturpolitisches Modell erproben, wie mit dieser Kleinteiligkeit wieder Großes zu erreichen wäre. JENS BISKY
Andreas Hillger, Die Deutsche Bühne, 11 | 2009
André Bücker vollbringt am Anhaltischen Theater in Dessau einen auf ganzer Linie überzeugenden Neustart als Nachfolger von Johannes Felsenstein
Eine Putzfrau, ausgerechnet eine Putzfrau ist es, die zur Augenzeugin der Verschwörung wird: Im verwüsteten Plenarsaal, wo Luftballons zwischen umgeworfenen Stühlen liegen, blickt sie schweigend auf den abgesetzten Herrscher und seine First Lady herab. Und während sich die Anhänger des Gewesenen spätestens in diesem Augenblick auf radikale Ablehnung einigen, sehen all jene, die auf das Kommende gehofft haben: Hier findet tatsächlich ein Akt der Reinigung statt, ein Kehraus jener Tradition, die auf dem Anhaltischen Theater zuletzt bleischwer lastete.
Nichts weniger hatte André Bücker für seine erste Dessauer Spielzeit angekündigt, nichts weniger hat sein Team mit dem ersten Premierenwochenende gehalten: Der Premieren-Hattrick aus Einar Schleefs „Abschlussfeier“, Richard Wagners „Lohengrin“ und Gotthold Ephraim Lessings „Nathan der Weise“ war eine politische und poetische Ansage, die in ihrer programmatischen Geschlossenheit wie in ihren ästhetischen Differenzen zu schönsten Hoffnungen für die Zukunft berechtigte. Dass sich der neue Generalintendant dabei in nobler Zurückhaltung übte und seine eigene Inszenierung an den Schluss des großen Theater-Festes stellte, durfte nach den Tagen des Patriarchen Johannes Felsenstein als Bekenntnis zum demokratischen Miteinander verstanden werden.
Die Fallhöhe seines „Nathan“ aber ist gleichwohl himmlisch: Rechas Vision, die einen Engel statt des Tempelherrn für ihre Rettung aus dem Feuer verantwortlich macht, wird als Prolog auf der großen Showtreppe zwischen Erde und Wasser, Feuer und Luft sichtbar beglaubigt. Im elementaren Bühnenbild von Suse Tobisch, die auch für die sakrale Haute Couture der Kostüme verantwortlich zeichnet, liest das neue Ensemble fortan einen alten Text, als wäre er ein Stück von heute. Uwe Fischers Nathan ist kein statuarischer Weiser, sondern ein von Kleinmut und Zweifeln getriebener Mensch, der sich seine Güte mühsam erarbeiten muss – und eigentlich lieber sein Gärtchen bestellen würde. Doch seitdem der selbstbewusste, kraftstrotzende Tempelherr (Sebastian Müller-Stahl) seine traumverlorene Adoptivtochter Recha (Ines Schiller) aus den Flammen getragen hat, bleibt ihm weder Zeit für seinen skurrilen Derwisch-Freund (Thorsten Köhler) noch für die Glaubensnöte seiner Dienerin Daja (Eva-Marianne Berger), die unter der Last ihrer Kruzifixe zusammenzubrechen droht und vom vielen Beten schon Pflaster an den Knien hat. Zwischen dem bigotten Patriarchen (Gerald Fiedler) und dem leichtsinnig toleranten Kampfsportler Saladin (Stephan Korves) muss der Jude sein höchstes Gut verteidigen – und gleichzeitig die Begehrlichkeiten von Sittah (Antje Weber) abwehren. Wie gut, dass wenigstens der Klosterbruder (Henning Kober) als Deus ex machina hält, was sein mit Heiligenbildchen bestickter Kittel verspricht …
André Bücker glückt es auf überraschende Weise, den Humor des Lessing-Textes als Geschmacksverstärker für die Bitterkeit freizulegen, er schlägt in der überwältigenden Körperlichkeit seines Ensembles einen gleichermaßen natürlichen wie hohen Ton an – und läuft am Ende in einhellige Begeisterung, nachdem sich am Vorabend ein Sturm aus Buh- und Bravo-Rufen über seine neue Chefregisseurin ergossen hatte. Dabei war auch Andrea Moses mit ihrem „Lohengrin“ ein großer Wurf gelungen: Sie hatte nicht nur den schimmernden Helden als Demagogen entzaubert, der mit seinem Frageverbot einen esoterischen Faschismus etabliert. Sie hatte zugleich den Hochbunker aus dem Jahr 1938 in all seinen gigantischen Möglichkeiten ausgeschöpft – und mit dem Haus auch die Menschen bewegt.
Denn dies war die frappierendste Neuerung ihres Abends, der in Christian Wiehles Ausstattung Schnürboden und Versenkung, Hinter- und Seitenbühne beansprucht: Ihre individuelle und präzise Figurenführung löste endlich jene musiktheatralische Qualität ein, die in den letzten Jahren vor Ort meist zur bloßen Behauptung verkommen war. Der Chor, verstärkt um Mitglieder des Extrachores und des freien Coruso-Ensembles, zeigte sich unter der Leitung von Helmut Sonne sängerisch wie darstellerisch in der Form seines Lebens, die Anhaltische Philharmonie spielte unter Antony Hermus gar weit über ihren bisherigen Möglichkeiten. Wie hier die Szene aus dem Klang geschöpft und in den Ton zurückgeführt wurde – das hatte Charme und Kraft, das war eine Verführung zum Denken und ein Bekenntnis zum „Bayreuth des Nordens“.
Dass sich neben den verlässlichen Konstanten Ulf Paulsen (Telramund) und Iordanka Derilova (Ortrud) ein neues Sängerensemble behauptete, von dem man sich künftig viel erwarten darf, rundete den positiven Eindruck: Pavel Shmulevich ist ein viriler König Heinrich, neben dem auch sein Heerrufer Wiard Witholt glänzende Figur macht. Und während Bettine Kampp als zunächst narkotisiertes Opfer Elsa allmählich zur selbstbewussten Frau reift, die als Einzige dem militanten Sog der New-Age-Gemeinde entrinnt, muss Andrew Sritheran in seinem Rollendebüt als Lohengrin zwar Lehrgeld zahlen. Er rettet sich – von Antony Hermus treulich geführt – aber mit Bravour über den Abend und wird an dieser Rolle gewiss weiter wachsen. Dass das gesamte Ensemble am Ende zudem wie ein Mann applaudierend hinter seiner Regisseurin stand, die drei Tage nach ihrem Dessauer Einstand mit der Berufung an die Staatsoper Stuttgart bereits die nächste Karriere-Stufe nahm, war ein Beweis für den neuen Geist, der auf dieser großen Bühne weht – und der Andrea Moses auch darin bestärkt, ihren Dessauer Vertrag bis 2011 zu erfüllen.
Dass Armin Petras schließlich ein besonderes Geschenk zum Einstand mitbringen würde, hatte man angesichts seiner Affinität zum Werk von Einar Schleef vermuten dürfen. Und tatsächlich geriet die „Abschlussfeier“, die vom Clash der Kulturen in einer DDR-Jugendherberge erzählt, zu einem Schauspielerfest voll überdrehter, traurig grundierter Heiterkeit: Ursula Werner und Hilke Altefrohne, Julischka Eichel und Sabine Weibel gaben als Gorki-Gäste hier das Niveau vor, zu dem sich auch die Ensemblemitglieder Regula Steiner-Tomic und Christel Ortmann sowie der Jugendklub des Anhaltischen Theaters streckten. Aus der kleinen Spielstätte wuchs und öffnete sich dieser so kluge wie sentimentale Abend in die Stadt hinein. Und am Ende der großen Party in einem kleinen Land konnte man wissen, dass dort vielleicht nicht alles schlecht – aber ganz gewiss gar nichts gut war.
Dass bereits in der ersten „Lohengrin“-Pause das neue Gästebuch mit dem Eintrag „André Bücker absetzen“ eröffnet worden war, erzählte viel über die Aufnahmebereitschaft der Alten für das Neue. Das letzte Wort aber hatte der Hausherr selbst: Nachdem ein Kinderchor die drakonische Strafe für Menschlichkeit zunächst noch mit „Hallelujah“ bejubelt hatte, schwebte am Ende eine bunte Leuchtschrift über der Szene: Ein roter Halbmond bildete das „C“, ein Davidsstern das „X“ und ein Kreuz das „T“ in dieser Aufforderung, die sich insgesamt als „Coexist“ lesen ließ. Und Nathan, dieser Mensch von Hier und Heute, pflanzte endlich seinen Baum. Was für ein Bild, welch ein Versprechen!
Choratorium: Musikschüler und Schauspieler proben für ihren Auftritt
VON ILKA HILLGER, 28.10.09
DESSAU/MZ. Alterode, Schulpforta, Weißenfels, Sömmerda und Hellersdorf. Lang ist die Liste jener Orte, in denen Frank Roder in den vergangenen zwei Jahren in Sachen Paul Gerhardt unterwegs war. Er reiste kreuz und quer durchs Land. "Ich habe in großen und kleinen Räumen gespielt, die Wirkung war immer einmalig", sagt Roder. Dabei singt er gar nicht die Lieder jenes Mannes aus Gräfenhainichen, dessen Geburtstag 2007 zum 400. Mal gefeiert wurde. Roder ist Schauspieler und erzählt vom Leben des Kirchenlieddichters Paul Gerhardt. Er geht dafür in die Kirchen, trifft die Gemeinden und vor allem auf deren Chöre, denn das Projekt "Du, meine Seele, singe" ist ein Choratorium mit Roder und den Sängern als Hauptdarstellern.
Oft erprobt wurde diese Zusammenarbeit nun schon, in diesen Tagen aber bekommt sie eine neue Qualität. Roder trifft sich mal wieder mit dem Regisseur des Stückes. André Bücker, heute Generalintendant des Anhaltischen Theaters, inszenierte das Choratorium mit Roder, als beide noch am Theater im Nordharz arbeiteten. Nun ist Bücker in Dessau, und nun kommt das Choratorium, geschrieben von August Buchner, auch in die Stadt, rückt nahe an Gräfenhainichen, den Geburtsort Paul Gerhardts heran. Am Sonnabend um 18 Uhr ist es in der Georgenkirche zu erleben. Bereits Donnerstag und Freitag füllt sich das Gotteshaus bei Proben mit jungen Leuten, denn diesmal wird es nicht der Gemeindechor sein, der Gerhardts Lieder singt, sondern der Chor der Musikschule. Gut 30 junge Sänger, die Flötengruppe und Posaunenspieler bereiten sich auf die Dessauer Premiere vor.
Die Musikschüler begleiten Gerhardts Lieder freilich schon sehr viel länger. Seit mehreren Wochen studieren sie unter der Leitung von Gesangslehrerin Marianne Kaiser die Strophen von Liedern wie "Geh aus, mein Herz" und "O Haupt voll Blut und Wunden" ein. So war es auch vor einer Woche im Saal der Musikschule. "Hell singen, hell singen", rief da Marianne Kaiser den jungen Leuten immer wieder zu, während diese sich durch das umfangreiche Liedmaterial arbeiteten. Frau Kaiser selbst las derweil jene Texte, die der Schauspieler bei den Proben am Donnerstag und Freitag sprechen wird.
Der freut sich derweil über den großen Umfang der Vorbereitungen in Dessau. Denn Thomas Kunath, früherer Direktor der Musikschule, schrieb eigens für die Aufführung neue Arrangements, die es erlauben, dass Flöten und Posaunen den Gesang begleiten. "Das ist auch für mich neu", so Roder, der bei den bisherigen Aufführungen gemerkt hat, dass "selbst jene, die ihren Paul Gerhardt zu kennen glauben, die Lieder durch das Stück neu verstehen". "Die Zuschauer bekommen von mir Informationen, und das löst bei ihnen Emotionen aus." So intensive, dass es selbst den erfahrenen Darsteller immer wieder aufs Neue überrascht. "Die Wirkung der Worte und Lieder so unmittelbar zu erleben, ist eine Erfahrung, die es auf der Theaterbühne nicht in dieser Stärke gibt", sagt Roder.
Eine Wirkung, die aus der Verwebung von Text und Gesang resultiert. Während der Schauspieler verzweifelt, hadert, Gott anruft und von den Lebensstationen Gerhardts erzählt, fällt ihm immer wieder der Chor ins Wort mit Liedern, die - gesungen in gesamter Länge - eine ungewöhnliche emotionale Kraft entfalten. Praktisch funktioniert dieses Konzept, weil die Chöre schon vor der Aufführung - wie eben auch in Dessau - eingebunden werden und mit dem Liedmaterial arbeiten. Treffen sie dann auf den Schauspieler, fügen sich zwei Teile - Text und Lieder - zu einem Ganzen, das aufgrund der verschiedenen Aufführungsorte immer neu ist. Auch in Dessau und bei der zweiten Aufführung am 14. November in der Wittenberger Stadtkirche wird sich Frank Roder deshalb neue Wege suchen, auf Emporen spielen, vorm Altar verzweifeln und einen inneren Glaubenskrieg entfesseln.
Magdeburger Volksstimme, 28.07.2009Ab 1. August ist André Bücker Generalintendant des Anhaltischen Theaters Dessau
Von Helmut Rohm
Ein herzliches „Guten Morgen“ für den Pförtner wird am 1. August die erste „off zielle Amtshandlung“ von André Bücker sein. Er ist ab diesem Tag der neue Generalintendant des Anhaltischen Theaters Dessau. Nachfolger des mit Spielzeitende in den Ruhestand gegangenen Johannes Felsenstein.
Dessau-Roßlau. André Bücker freut sich auf diese Arbeit, auf sein Leitungsteam, auf alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Darauf, dass es „nun richtig losgeht“, so der 40-Jährige, der aus Harderberg bei Osnabrück stammt. Bis 31. Dezember 2008 war André Bücker Intendant des Nordharzer Städtebundtheaters Halberstadt.
„Ich hatte die Geschäfte allerdings in Halberstadt bereits im September 2008 an meinen Nachfolger übergeben. Auch, um Zeit für die neue Herausforderung hier zu haben“, erzählt der „Neudessauer“, dessen Auto seit Oktober 2008 ein DE-Kennzeichen hat. „Es sollte ja kein Blindfug sein, mit dem ich nach Dessau gestartet bin“, macht es André Bücker bildhaft.
Natürlich beginnt die Arbeit in Dessau nicht erst am 1. August. Schon vor und im Bewerbungsprozess hat sich Bücker mit diesem „äußerst interessanten künstlerischen Pflaster“ beschäftigt. Er zählt stichpunktartig auf, kommt fast ins Schwärmen: humanistische Traditionen, Bauhaus, Dessau-Wörlitzer Gartenreich, mit Blick bis nach Wittenberg, auch die Reformation, preußische Aufklärung, Kurt Weill, Moses Mendelssohn. Ein schier unerschöpficher Fundus an Geschichte und Geschichten, die es lohnen, im besten Sinne des Wortes „bearbeitet“ zu werden, um „einen Blick auf das Heute zu finden“.
„Die meisten Wünsche habe ich mir erfüllen können“
Viele tausend Kilometer sei er unterwegs gewesen, um sich Künstlerinnen und Künstler anzuschauen, insbesondere jedoch Mitstreiter für sein Leitungsteam zu suchen und zu finden. Klar habe er Wünsche gehabt. Und er kenne sich auch aus in der „Szene“. Da kamen ihm die dreieinhalb Jahre Generalintendanz in Halberstadt zugute, wie auch die beiden Jahre als stellvertretender Intendant in Wilhelmshaven. Oder gleich nach dem Studium in Bochum die vier Jahre als Regieassistent in Dortmund mit fünf eigenverantwortlichen Regiearbeiten. Seit 1995 brachte er, fünf Jahre freiberuflicher Tätigkeit inbegriffen, in denen „ich immer gut zu tun hatte“, etwa 50 Inszenierungen auf die Bühne.
Zurück zu seinen Wünschen. „Die meisten habe ich mir erfüllen können“, freut er sich. Und wieder etwas ernsthafter: Klar geht es bei einem Intendantenwechsel nicht ohne Spannungen und Konfikte ab, sind Verunsicherungen fast normal. „Dennoch wollte und musste ich Voraussetzungen schaffen für die Umsetzung meiner Ideen von Theaterarbeit in Dessau, für die ich schließlich auch gewählt wurde. Und für die ich geradestehen muss, an deren Ergebnissen ich, aber auch das ganze Dessauer Theater künftig gemessen werden.“
Er möchte gern jeden nennen und jedes Engagement würdigen, beschränkt sich jedoch dann auf einige, völlig ohne Rang- und Reihenfolge: Andrea Moses, leitende Regisseurin für Musiktheater und Schauspiel, Heribert Germeshausen, leitender Dramaturg Musiktheater/ Operndirektion, Holger Kuhla, leitender Dramaturg Schauspiel und Pupentheater, auch Generalmusikdirektor Antony Hermus und Ballettdirektor Tomasz Kajdanski.
Apropos Wünsche und Ziele. Ihm war schon mit etwa 16 Jahren klar, dass er später „zum Theater gehen wird“. Als er 25 war, hätten er und ein guter Schauspiel-Freund über die Frage sinniert, was werde wohl in zehn Jahren sein. André Bücker meinte damals: „Da bin ich Intendant“ – und es hat geklappt. Er wollte mehr und mehr in höherer Verantwortung stehen, nicht nur als Regisseur für ein Stück, sondern Verantwortung tragen für die ganz „große Inszenierung Theater“.
In Dessau ist „die konzeptionelle Arbeit für die erste Spielzeit 2009/2010 abgeschlossen“. Das Ensemble ist engagiert, das Spielzeitheft „auf dem Markt“. Der Generalintendant freut sich, dass vielleicht befürchtete oder von einigen herbeigewünschte Abonnenteneinbrüche nicht eingetreten seien. Das spreche für Neugierde und Vorabvertrauen des Publikums auf Kommendes. Das Programm unter dem Motto „Offenes Land“ könne sich künstlerisch durchaus sehen lassen. André Bücker selbst wird mit drei Inszenierungen „dabei sein“: „Nathan der Weise“ (Premiere 4. Oktober), „Das Tagebuch der Anne Frank“ (als Minioper von Grigori Fried; 27. Oktober) und „Die Stumme von Portici“ (24. April 2010).
„Ort und Region werden sich widerspiegeln“
Es geht bereits mit einem künstlerischen „Paukenschlag“ los. In aller Bescheidenheit, aber auch mit berechtigtem Stolz formuliert André Bücker: „Unser großes Premierenwochenende kann man in der deutschen Theaterlandschaft suchen.“ Das Programm: 2. Oktober: „Abschlussfeier“, Uraufführung, (Schauspiel von Einar Schleef, Regie: Armin Petras), 3. Oktober: „Lohengrin“ (Oper von Richard Wagner, Regie: Andrea Moses), 4. Oktober: „Nathan der Weise“. Der „Dreiklang“ Wagner, Lessing, Schleef, so der Generalintendant, widme sich deutschen Themen in allen Brüchen und ihrer Widersprüchlichkeit.
Es wird für Dessau überhaupt ein besonderes und denkwürdiges Jahr werden, auch aus historischer Sicht. André Bücker: „Das Theater geht in die 215. Spielzeit und wir werden die 5000. Inszenierung in der Geschichte dieses Theaters auf die Bühne bringen.“ Theaterkunst in Dessau im weitesten Sinne realisiert sich nicht nur im Theater selbst. Zahlreiche Kooperationen, unter anderem mit dem Bauhaus, dem Kurt-Weill-Fest, auch den Schulen zeugen davon, dass „der Ort und die Region, ihre Themen und Geschichten sich in unserer Arbeit widerspiegeln werden“.
Das passt auch zu André Bücker, der, wenn nicht Theatermann, vielleicht Archäologe geworden wäre. Mit noch immer vorhandenem Interesse an Geschichte und Geschichten, an Spurensuche, am Ausgraben, Forschen und Entdecken. Das alles gebe es im Theater irgendwie auch.
Über 20 Inszenierungen werden am Anhaltischen Theater Dessau in der kommenden Spielzeit zu erleben sein.
„Wir freuen uns auf Sie“, lädt André Bücker sein „hochgeschätztes Publikum“ dazu ein.
Wittenberg (wg). "Diese Uraufführung reiht sich ein in die lange Kette der Sommertheaterprojekte und verbindet einmal mehr Traditionelles mit Neuem", erklärte Oberbürgermeister Eckhard Naumann beim Pressegespräch auf dem Lutherhof, einem der sieben Schauplätze der Theatertour. Luther, Reformation, Um- und Aufbruch sind die immer wiederkehrenden Themen der seit 1996 aufgeführten Sommerinszenierungen der Bühne Wittenberg. Jeweils neu sind die Spielorte, die Ideen, die Regisseure und Autoren sowie die Schauspieler. Regisseur der "Weltzeit Wittenberg" ist André Bücker, designierter Generalintendant des Anhaltischen Theaters. Johannes Winkelmann, Geschäftsführer des Vereins WittenbergKultur, lobt ausdrücklich die gute Kooperation mit der Dessauer Bühne: "Wir müssen die Potenziale der Region bündeln, Wittenberg verfügt über eine bedeutsame Historie, Dessau hat ein großes Theater." Bespielt werden die Originalschauplätze der Reformation, denn die Bühne Wittenberg erhebt den Anspruch, Geschichte lebendig zu machen und dabei das Publikum mitzunehmen. "Wir machen keine Historienspektakel mit einem Hammer schwingenden Luther, vielmehr geht es uns um die künstlerische Brechung des Themas Reformation", betont Winkelmann. Nicht so sehr Luthers Wirken stehe dabei im Mittelpunkt, sondern die Auswirkungen der Umbruchzeit bis heute. Winkelmann: "In Wittenberg ist genug Stoff auch für künftige Theaterprojekte vorhanden." In "Weltzeit Wittenberg" verwandelt sich die historische Innenstadt in das Europa an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit. "Damals befand sich die ganze Welt im Umbruch." "Ein wesentlicher Fokus lag dabei auf Wittenberg", erklärt André Bücker. "Wittenberg befindet sich im Zentrum von Weltgeschichte und Weltzeit, ein unglaublich inspirierender Ort für künstlerische Transformationen." Das Publikum erkundet auf den Linien der Zeit die damaligen Ereignisse. "Zum Raum wird hier die Zeit", dieses Parzival-Zitat könnte als Motto über Bückers Inszenierung stehen: "Historische Figuren entwerfen in fiktiven Situationen ein Panorama der Reformation." In verschiedenen Alltagssituationen werden die Ängste und Nöte der Menschen in dieser signifikanten Umbruchzeit beleuchtet: Wird die neue Zeit ihr Leben bestimmen oder handelt es sich "nur" um ein gesamtgesellschaftliches Ereignis, während die Menschen im täglichen Leben mit ganz anderen existenziellen Problemen zu kämpfen haben? Das Publikum wird in zwei Gruppen geteilt und beginnt den Theaterabend an zwei entgegen gesetzten Punkten der Stadt: Auf dem Lutherhof begegnen die Zuschauer dem Kosmographen Sebastian Münster (Basel 1552), die andere Gruppe erlebt an der Freitreppe am Schlossplatz ein königliches Schachspiel mit Isabella von Kastilien, Ferdinand von Aragon und Christoph Kolumbus (Barcelona 1493). Unterwegs trifft das Publikum auf Wissenschaftler und Handwerker, Kurfürsten und Untergebene des Papstes, traditionsbewusste Katholiken, Protestanten und konvertierte Juden. An Luthers Predigtkirche St. Marien treffen sich beide Gruppen und alle Schauspieler zur "Wittenberger Inventur" am Vorabend von Allerheiligen 1517, einen Tag vor Luthers Thesenanschlag. Weitere Spielorte und Spielszenen: Der Schlosshof verwandelt sich in den Vatikan, wo Leonardo da Vinci verbotenerweise den Kadaver des päpstlichen Elefanten seziert (Rom 1516). Auf dem Museumshof treffen sich Albrecht Dürer und Sybille, Ehefrau des reichen Kaufmanns Jakob Fugger (Augsburg 1512). Auf dem Hof der Leucorea ruft Wiedertäufer Jan Bockelson sein Volk zum letzten Gefecht gegen die Sünder und Frevler auf (Münster 1535). Über die Erfindung der transportablen Zeit in Form einer Uhr streiten auf dem Hof des Best Western Hotels der Schuhmacher und Poet Hans Sachs und Uhrmachermeister Peter Henlein (Nürnberg 1520). - Premiere ist am Donnerstag, dem 16. Juli, 20 Uhr. Weitere Vorstellungen: 17., 18., 24., 25. und 31. Juli sowie 1., 7. und 8. August, jeweils 20 Uhr. Gegen ein Pfand von zehn Euro wird ein "Zeitreisestuhl" angeboten. - Karten gibt es unter der Rufnummer 0700/20 08 20 17 oder www.buehnewittenberg.de.
Stadt offeriert ersten künstlerischen Beitrag zur Luther-Dekade
VON KLAUS ADAM, Mitteldeutsche Zeitung, 06.07.09
WITTENBERG/MZ. Zu Beginn gibt's erstmal Klapphocker. Die kleinen grünen Sitzgelegenheiten werden von den Gästen des diesjährigen Lutherstückes "Weltzeit Wittenberg" sicher gut gebraucht. Denn das Publikum hat einiges an Weg zurückzulegen. Und wird sie gern unter den Arm klemmen, wenn es von Bühne zu Bühne geht. Alles ist im Fluss, "es gibt nichts Statisches" in diesem Theater, meinte Wittenbergs Oberbürgermeister Eckhard Naumann (SPD) am Montag zur Vorstellung des Projektes, das gleichzeitig das erste Stück der Stadt in der Luther-Dekade ist. Damit wolle man "etwas Besonderes anbieten", aber nichts, das für die nächsten zehn Jahre Bestand habe. "Wir versuchen, immer wieder Neues einzubinden", erklärte Naumann zum Credo des diesjährigen Luther-Stückes. Die Orte, die Texte werden immer wieder anders sein. "Wir möchten Geschichte lebendig machen", fügte Johannes Winkelmann vom Veranstalterverein "WittenbergKultur" an. Es solle weder ein Heimatstück, noch Historienspektakel werden, "dazu haben wir ,Luthers Hochzeit'", sondern ein Theaterspiel, das die Auswirkungen der Wittenberger Geschichte auf Europa und die Welt und auch wieder zurück darstellt. Wie in der Geschichte, so wird es in dem Stück nicht nur streng geradeaus gehen, sondern die Gäste müssen sich auch auf einen Zickzackkurs gefasst machen. Und das ist ganz praktisch gemeint, denn nicht weniger als sieben Spielstätten erwarten das Publikum. Allerdings anders als 2004, da die Besucher selber entscheiden konnten, wann sie an welchen Ort gehen (getreu dem Motiv: "eine Stadt wird bespielt") werden sie dieses Mal in Gruppen von Stadtführerinnen begleitet. "Was durchaus auch eine logistische Meisterleistung ist", wie Regisseur André Bücker einflicht. So ist der Hof des Lutherhauses für die eine Gruppe der Beginn und für die andere das Ziel. "Auf diese Art wird jeder am Ende ein anderes Stück gesehen haben", zeigt sich der designierte Generalintendant des Anhaltischen Theaters Dessau sicher. Unterwegs spalten sich die Züge jeweils noch einmal in kleinere Gruppen. "Historische Figuren treffen auf fiktive Weise aufeinander", erklärt Bücker die Spielregeln. "Wir befinden uns hier im Zentrum von Weltzeit", erinnert der Regisseur. "Von hier sind Impulse ausgegangen, die die Welt nachhaltig geprägt haben." Und mit den Linien dieser Impulse beschäftigt sich das Stück. Entlang dieser Linien wird sich das Publikum bewegen, wenn es von der Freitreppe am Schlossplatz zum Museumshof wechselt oder zum Schlosshof. In der Stadtkirche treffen sich unterwegs alle. Dort werden am Vorabend von Allerheiligen 1517 und einen Tag vor Luthers Thesenanschlag die Reliquien in der Kirche des Kurfürsten inventarisiert. Als den Mägden eine Reliquie zerbricht und man ihnen mit Fegefeuer droht, überlegen sie verzweifelt, ob sie Hilfe durch einen von Tetzels Ablassbriefen finden könnten. In einer anderen Szene wird Leonardo da Vinci an der Leiche des päpstlichen Elefanten Hanno aufgegriffen, wie er herausfinden will, woran das Tier gestorben ist. Während die Menschen darben, ruft Wiedertäufer Jan Bockelson an anderem Ort zum letzten Kampf gegen Sünder und Frevler auf. Doch eine Frau aus dem Volke prangert Missstände öffentlich an. Bockelson, der Vielweiberei betreibt, bietet ihr die Ehe an. Sie lehnt ab und findet durch dessen Wachen den Tod. Keineswegs wird dabei jedoch der schulmeisterliche Zeigefinger erhoben. Die Schauspieler agieren als Komödianten im besten Sinne. Frank Roder als Jan Bockelson konnte dies beim Pressetermin am Montag treffend demonstrieren. Das Ensemble ist erneut eine gute Mischung aus erfahrenen professionellen Akteuren und hochtalentiertem Nachwuchs vom Theaterjugendklub. Premiere von "Weltzeit Wittenberg" ist am 16. Juli. Weitere Vorstellungen: 17. 18., 24., 25., und 31. Juli sowie am 1., 7. und 8. August, jeweils 20 Uhr.
André Bücker stellt das Programm für die 215. Spielzeit in Dessau vor.
Auf einer Pressekonferenz am vergangenen Freitag stellte der künftige Generalintendant André Bücker das künstlerische Team vor, das ab dem 1. August 2009 die Leitung des Mehrspartenhauses mit 350 Mitarbeitern übernimmt. Ihm zur Seite stehen mit Antony Hermus ein neuer Generalmusikdirektor und Chefdirigent der Anhaltischen Philharmonie, mit Andrea Moses eine neue Leitende Regisseurin für Musiktheater und Schauspiel, mit Tomasz Kajdanski ein neuer Ballettdirektor und Chefchoreograph und mit Frank Bernhardt, der künstlerische Leiter des Dessauer und Magdeburger Puppentheaters (die Kooperation der beiden Häuser in Dessau und Magdeburg geht in das fünfte Jahr). Die Dramaturgie wird komplettiert durch Heribert Germeshausen (Leitender Dramaturg Musiktheater/Operndirektion), Holger Kuhla (Leitender Dramaturg Schauspiel und Puppentheater) sowie Maria Viktoria Linke (Dramaturgin für Schauspiel und Projekte). Neben dem künstlerischen Leitungsteam werden über 50 neue Künstlerinnen und Künstler die Arbeit am Dessauer Theater aufnehmen.
„Offenes Land“ lautet die Überschrift zur 215. Spielzeit 2009/2010. „Das Anhaltische Theater Dessau ist ein Diskussionsort für die Themen der Gegenwart. Wir schöpfen unser Material aus einer der wichtigsten Kulturlandschaften Deutschlands und laden Künstler mit scharfem Blick und aufregenden Handschriften ein, diese mit uns zu erkunden“ sagte André Bücker bei der Vorstellung des Premierenplans, der 30 Premieren, 8 Sinfoniekonzerte sowie zahlreiche Sonderkonzerte und Projekte vorsieht.
Das große Eröffnungswochenende vom 2. bis 4. Oktober steht im Zeichen der deutschen Themen. Mit der Uraufführung von Einar Schleefs „Abschlussfeier“ in der Inszenierung von Armin Petras (Koproduktion mit dem Maxim Gorki Theater Berlin) beginnt das Wochenende im neuen Spielort „Altes Theater“. Es schließen sich die Premieren von Richard Wagners „Lohengrin“ (Inszenierung Andrea Moses) und Lessings „Nathan der Weise“ (Inszenierung André Bücker) im Großen Haus an. Ergänzt wird das Wochenende durch das Projekt „Gesänge aus 1001 Deutschen Nacht“, inszeniert von Krzystof Minkowski, das an unterschiedlichen Orten im Dessauer Stadtgebiet aufgeführt wird.
Als weitere Premieren im Musiktheater stehen die selten gespielte und historisch als erste Grand Opera geltende Oper „Die Stumme von Portici“ Daniel-François-Esprit Aubers (Inszenierung André Bücker), Giuseppe Verdis „Ein Maskenball“ (Inszenierung Roland Schwab), Bernsteins „Candide“ (Inszenierung Cordula Däuper) und als Eröffnungsproduktion des Kurt Weill Festes 2010 das Musical „One Touch of Venus“ auf dem Programm. Die Premiere des amerikanischen Weill Musicals markiert gleichzeitig die 5000. Premiere in der Geschichte des Dessauer Theaters.
Im Schauspiel stehen als markante Premieren Kleists frühes Drama „Die Familie Schroffenstein“ (Inszenierung Christian Weise), Zuckmayers „Des Teufels General“ (Inszenierung Wolf Bunge) und „Sommer-Nacht-Traum“ (Inszenierung Andrea Moses) als Kombination aus Botho Strauss’ „Der Park“ und Andreas Gryphius „Herr Peter Squenz“ an. Daneben gibt es zahlreiche Premieren im Alten Theater und die Uraufführung eines Projektes von Niklas Ritter mit dem Titel „Wanderlust und Reisefreiheit“, das von Dessauer Bürgern über 60 Jahren mitgestaltet wird. Das Stadtprojekt „89jetzt!“ beschäftigt sich mit der Wende vor 20 Jahren in Dessau und wird am 9. November im gesamten Stadtgebiet vom Theater und der Dessauer Bevölkerung getragen.
Tomasz Kajdanski widmet sich in seiner ersten Spielzeit als Chefchoreograph dem modernen Tanztheater und erforscht mit „Lulu“, „Nachtasyl“ und „Hermes in der Stadt“ (als Kooperation mit der Dessauer Bauhausbühne) soziale Welten.
Die Anhaltische Philharmonie wird unter ihrem künftigen GMD Antony Hermus in der kommenden Spielzeit acht Sinfoniekonzerte, acht Sonderkonzerte und sechs Kammerkonzerte geben. Der Konzertplan widmet sich neben dem klassischen Konzertrepertoire verstärkt der klassischen Moderne. Die Konzertpädagogik wird intensiviert und auch auf die Erwachsenenbildung übertragen. Beim ersten Sinfoniekonzert werden 280 Sängerinnen und Sänger aus der Dessauer Region gemeinsam Antonin Dvoraks „Te Deum“ singen. Ein Novum ist das Scratch Konzert (15.5. 2010), bei dem an einem Tag mit interessierten sangesfreudigen Dessauern Carl Orffs „Carmina Burana“ einstudiert wird. In Dessau wird es neben dem großen Eröffnungskonzert zwei weitere Konzerte des landesweit ausgetragenen „Impuls“-Musikfestivals geben.
Als Teil der Theaterarbeit in Dessau werden die Kooperationen mit dem Bauhaus, dem Gartenreich Dessau-Wörlitz sowie dem Kurt Weill Fest intensiviert.
Parallel mit der Vorstellung der neuen Spielzeit startet eine Internetseite, die in den kommenden Wochen und Monaten weitere Informationen zur 215. Spielzeit bereithält: www.lockbuch-dessau.de
Mannheimer Morgen, 16. April 2009
Mannheim. Zwar ist die Lage eindeutig, aber dennoch kompliziert. Schließlich hat Claudia Starik, jung, sexy, hochbegabt, einen kommunistischen Großvater namens Konstantin, der seine politischen Ideale und Ziele partout nicht aufgeben will. Dass er deshalb mit dem desolaten Zustand der Welt wenig einverstanden ist, versteht sich beinahe von selbst. Doch im Unterschied zu den meisten Menschen glaubt er die Ursache der Misere zu kennen. Sie heißt "HAARP", befindet sich in Alaska und ist ein als zivile Forschungsstation getarntes militärisches Geheimprojekt der Amerikaner. Seine Riesenantennen, so vermutet Opa Konstantin, manipulieren das Bewusstsein der Irdischen. Also lädt er seine Enkelin Claudia zu einer Reise in den hohen Norden ein. Nicht ohne Hintergedanken: Gemeinsam mit ihr will er die "Bewusstseinsmaschine" sabotieren. "Waffenwetter" heißt ein Roman von Dietmar Dath, den André Bücker und Ingoh Brux für das Schauspiel des Mannheimer Nationaltheaters bearbeitet haben. Entstanden ist als Bühnenfassung ein Drei-Personenstück, dessen Mischung aus Science Fiction und Polit-Thriller nicht nur die Ideen des Sozialismus neu verhandelt, sondern auch die technische Reproduzierbarkeit des Bösen thematisiert. Und dass sich hinter Opa Konstantin ein moderner König Lear verbirgt, der sein politisches Erbe, ein Reich des Wissens, erhalten möchte und dabei den Wahnsinn streift, erhöht zusätzlich den Reiz dieser literarischen Vorlage, die Regisseur André Bücker, der vor zwei Jahren in Mannheim Dürrenmatts "Physiker" inszenierte, als "höchst vielschichtig" bezeichnet. Jedenfalls sind die Menschen aus der Sicht Dietmar Daths offenbar besser als ihr Ruf. Denn ihre schlechten Gedanken beziehen sie unbewusst von "HAARP". Eine Art "Gehirnwäsche", wie Bücker sagt, die den geistigen und humanen Fortschritt auf der Welt verhindert. Kein Wunder, dass er Daths Text ein "Abenteuer" nennt. Es könne beim Publikum eine Vielfalt von Vorstellungen und Empfindungen auslösen, verlange aber auch ein hohes Maß an Aufmerksamkeit.
von Alfred Huber
Der designierte Generalintendant des Anhaltischen Theaters Dessau wurde von Bundespräsident Horst Köhler zum Neujahrsempfang 2009 am 13. Januar nach Schloss Bellevue eingeladen. Begründung: „Der ehemalige Intendant des Nordharzer Städtebundtheaters Halberstadt/Quedlinburg hat sich nach dem Überfall rechter Schläger auf eine Gruppe Schauspieler seines Theaters 2007 aufopferungsvoll um die medizinische und psychologische Betreuung der Opfer bemüht und sich ehrenamtlich dafür eingesetzt, dass die Tat zum Gegenstand einer breiten öffentlichen Diskussion wurde. Daraus entstand eine konzertierte Aktion von engagierten Bürgern, der Stadtverwaltung, den Kirchen und Künstlern, die unter dem Titel „ Auf die Plätze“ ihr Nein zu Neonazis und Gewalt deutlich machten.“
Volksstimme Magdeburg, 27.11.2008
Von Herbert HenningAls erstes Theater Sachsen-Anhalts ehrt das Nordharzer Städtebundtheater mit der Premiere der Oper "Orlando" den Komponisten Georg Friedrich Händel anlässlich seines 250. Todestages im nächsten Jahr. Mit der Inszenierung dieser Barockoper unter Mitwirkung der Continuogruppe der "Lautten Compagney Berlin" verabschiedet sich der Intendant André Bücker als Regisseur von seinem Publikum.
Halberstadt. Wenn Johannes Rieger über die Musik Händels und seine Opern spricht, merkt man seine Begeisterung für das Werk des in Halle geborenen Komponisten. Werke von Händel – Opern, Oratorien und Konzerte – spielen im Oevre des Musikdirektors und künftigen Intendanten des Nordharzer Städtebundtheaters immer wieder eine Rolle.
Die Inszenierung der Oper "Orlando", 1733 in London uraufgeführt, setzt eine mit "Julius Cäsar" und "Otto und Theophano" vor fünf Jahren begonnene Reihe fort, und Johannes Rieger vertraut auf das Publikum, darauf, dass auch diesmal das Interesse und die Begeisterung für die Barockoper groß sein werden.
"Wir waren damals sehr überrascht, dass die Händel-Oper einen so starken Publikumszuspruch hatte und wir glauben, dass dies vor allem auch in der Dramatik seiner Opern, den Möglichkeiten für szenische Efindungen und Spiele begründet ist", sagt Johannes Rieger im Volksstimme-Gespräch und fügt hinzu, dass es für die "Orlando" - Inszenierung wiederum ein großer Glücksfall ist, dass die Continuogruppe der "Lautten Compagney Berlin" auf historischen Instrumenten gemeinsam mit dem Orchester spielen wird.
Diese musikalische Kooperation ist deutschlandweit einmalig und wird auch bei "Orlando" eine weitestgehend authentische Interpretation garantieren. Johannes Rieger schwärmt regelrecht von der Zusammenarbeit beider Klangkörper. "Meine Musiker im Orchester sind dadurch hoch motiviert, musizieren mit Begeisterung und man spürt, wie sie über sich selbst hinauswachsen."
Dass nach "Otto und Theophanu" die Wahl auf die selten gespielte Oper "Orlando" fiel, kommt nicht von ungefähr. "Wir haben wie damals einen starken regionalen Bezug. Ritter Roland, der den Rolands guren auch in Halberstadt und Quedlinburg seinen Namen gab, wurde erstmals im ,Rolandslied‘ besungen. Seine Abenteuer sind zur Legende geworden. Nach Episoden aus dem Epos ,Orlando furioso‘ von Ludovico Aristo hat Händel diese wunderbare Zauber-Oper über Liebe, Macht und Wahnsinn geschaffen – eine Oper voller sinnlicher Dramatik und wunderschöner Arien und Ensembles, die Händel als einen großen Musikdramatiker ausweisen", erläutert Andrè Bücker die Entscheidung für diese Oper als Beitrag zum Händel-Jahr 2009.
Für den scheidenden Intendanten und Regisseur ist es die 25. Inszenierung in den vergangenen neun Jahren an diesem Theater und in der Zusammenarbeit mit dem Orchester, MD Johannes Rieger und dem Solistenensemble ein abschließender Höhepunkt.
"… sehr spannend und theatralisch"
"Es ist ein die Proben sehr positiv beein ussendes Vertrautsein, ein Sich-aufeinander-verlassen-Können und der unbedingte Wille, das Beste zu geben, der uns immer wieder anspornt", charakterisiert Bücker die Atmosphäre bei der Probenarbeit. Dass auch in dieser Inszenierung als Gast der Altus Steve Wächter, der als Otto bereits Furore machte, den Orlando singt, bezeichnen Johannes Rieger und André Bücker übereinstimmend als einen Glücksfall.
Die Besetzung aller anderen musikalisch höchst anspruchsvollen Rollen mit Sängerinnen und Sängern des eigenen Ensembles, zeigt ihr Vertrauen in die Leistungsfähigkeit des Ensembles. Die Bachpreisträgerin 2008 Friderike Marie Schöder singt die Königin Angelica, Gerlind Schröder den Prinzen Medoro, Kerstin Pettersson die Dorinda und Juha Koskela und Gijs Nikamp den Zauberer Zoroastro.
Auf die szenische Umsetzung angesprochen, gibt sich der Regisseur eher zurückhaltend. "Wir werden auf eine ganz besondere Art und Weise den Wahnsinn des Orlando erlebbar machen und auch, dass in diesem Liebeswahn ein Sinn ist. Filmische Mittel, Licht und die Verwandlung des von Imme Kachel entworfenen Bühnenraumes werden genutzt, um die Gefühlswelt der schicksalhaft miteinander verbundenen Menschen zusätzlich zu den Rezitativen und den Arien auf einer anderen Erzählebene zu zeigen", verrät André Bücker. Dass Händel "sehr spannend und ungemein theatralisch sein kann" - daran ließ das Gespräch mit Johannes Rieger und André Bücker vor der Premiere am 29. November um 19.30 Uhr im Großen Haus Halberstadt keinen Zweifel.
ZDF Theaterkanal, 14.11.2008
Mit Beginn der Spielzeit 2009/2010 wird Antony Hermus neuer Generalmusikdirektor des Anhaltischen Theaters Dessau. André Bücker, designierter Generalintendant, stellte den Dirigenten vergangenen Freitag in Dessau vor.
André Bücker: „Mit Antony Hermus gewinnt das Musiktheater und die Anhaltische Philharmonie einen jungen, hochbegabten und bereits leitungserfahrenen Chefdirigenten. Sein Engagement geht weit über das Musikalische hinaus. Der gebürtige Niederländer bringt alle Voraussetzungen mit, um mit seiner künstlerischen Kompetenz und seinem Enthusiasmus maßgeblich den Neubeginn am Anhaltischen Theater mit zu gestalten.“
Antony Hermus wurde 1973 in den Niederlanden geboren und studierte an der Musikhochschule in Tilburg Klavier und Dirigieren. Er war von 2003 bis 2008 Generalmusikdirektor des Philharmonischen Orchesters Hagen und des Theater Hagen. Hermus kam 1998 an das Hagener Theater und arbeitete sich dort in nicht einmal fünf Jahren über Stationen als Studienleiter (1999–2001) und 1. Kapellmeister (2001–2003) zum Generalmusikdirektor hoch.
In Hagen war Hermus verantwortlich für zahlreiche Uraufführungen und Wiederentdeckungen. Neben seiner intensiven Tätigkeit in Konzert und Oper nahmen auch konzert- und theaterpädagogische Projekte einen wichtigen Raum ein. Bei der Umfrage unter Musikkritikern Nordrhein-Westfalens wurde Antony Hermus in den letzten beiden Spielzeiten vielfach als bester Dirigent nominiert. Im November 2005 erschien eine von der Fachpresse hochgelobte CD mit dem Philharmonischen Orchester Hagen, das unter Hermus’ Leitung Werke von Hans Rott und Gustav Mahler (1. Sinfonie) einspielte. Im Oktober 2007 erschien eine ebenfalls von der Presse hoch bewertete CD mit einer sinfonischen Fassung von Richard Wagners „Tristan und Isolde“.
Bei vielen Orchestern im In- und Ausland ist Antony Hermus ein gern gesehener Gast. In den vergangenen Jahren stand er u.a. am Pult der Bochumer Symphoniker, der Philharmonischen Orchester in Duisburg, Magdeburg, Freiburg, Oldenburg und Rostock, sowie des RTE National Symphony Orchestra of Ireland und das Orchestre de Bretagne; in seiner Heimat dirigierte er u.a. Het Gelders Orkest sowie Het Brabants Orkest. Im August diesen Jahres gab Antony sein erfolgreiches Asien-Debut, wo er bei Vorstellungen des tawainesischen Nationalballetts das Taipei Symphony Orchestra und das Chimei Philharmonic Orchestra dirigierte. Diese Spielzeit leitet er neben zahlreichen Konzerte auch Opern-Neuproduktionen bei der Opera Zuid (Maastricht), Opera National de Paris, und der Opera de Rennes. Außerdem wird Antony Hermus in Februar 2010 sein Konzertdebut beim Orchestre de L'Opéra National de Paris im Pariser Palais Garnier geben.
Antony Hermus: „Dessau hat eine große und reiche musikalische Tradition. Es ist schön für mich, Teil davon werden zu dürfen und ich freue mich auf eine interessante und spannende Zeit!“
Mitteldeutsche Zeitung Halle, 11.11.08
Kornhausdialog: Dessaus künftiger Intendant André Bücker erzählt von seinen Plänen für Theater
von ILKA HILLGERDESSAU/MZ. Nun wollten sie mal selber sehen, wie er so ist, der Neue. In der Zeitung las man einiges über ihn, mancher traf ihn auf Veranstaltungen, andere hatten nur von ihm gehört. Jetzt saß er also im Saal des Restaurants "Kornhaus", wo am Sonntagvormittag beim "Kornhausdialog" ein Besucherrekord verzeichnet wurde. Knapp 150 Leute waren gekommen, um sich ein Bild von Dessaus designiertem Theaterintendanten André Bücker zu machen. Eingeladen hatte zu dieser Gesprächsrunde der Freundeskreis des Anhaltischen Theaters, dessen Vorsitzender Oliver Thust moderierte. Knapp war die Vorstellung des künftigen Generalintendanten, der noch bis Jahresende als Intendant dem Nordharzer Städtebundtheater vorsteht, seine Amtsgeschäfte jedoch schon seinem Nachfolger übergeben hat. Derzeit probt Bücker im Harz Georg Friedrich Händels Oper "Orlando", die am 29. November Premiere hat. Noch einmal Händel, diesmal "Serse", inszeniert er 2009 für die Händel-Festspiele im Goethetheater Bad Lauchstädt; am Nationaltheater Mannheim wird er zudem als Gastregisseur in dieser Spielzeit arbeiten. Der Mann hat also viel zu tun. Sein Hauptaugenmerk gilt aber schon jetzt - nicht mehr ganz ein Jahr vor seinem Amtsantritt - der neuen Wirkungsstätte in Dessau. "Alle wichtigen Weichenstellungen passieren derzeit", erklärte André Bücker am Sonntagvormittag seinen Zuhörern. In den vergangenen Wochen hat er sein Leitungsteam zusammengestellt, eine Gruppe die "menschlich und künstlerisch zusammenpasst". Nun fährt er vor allem Auto, ist kreuz und quer im Land unterwegs, besucht Vorsingen, Gesangswettbewerbe, Premieren, Vorstellungen und ist bei all dem auf der Suche nach Sängern und Schauspielern für das Dessauer Ensemble. "Ich führe unendlich viele Gespräche, und es ist fantastisch, auf diese Weise so viele Künstler kennen zu lernen." Es wird also neue Gesichter auf und hinter der Bühne geben, was Moderator Oliver Thust um Details bitten ließ. Den neuen Ballettchef Tomasz Kajdanski nannte André Bücher ein "Naturereignis". "Er paart klassisches Ballett und modernes Tanztheater und hat den Willen, Geschichten zu erzählen." Chefregisseurin Andrea Moses stehe für "inhaltlich und handwerklich genaue Arbeit an den Figuren". Hinter den Kulissen komplettieren Heribert Germeshausen als leitender Dramaturg und Maria Linke in der Dramaturgie das Team. Noch vage waren André Bückers Aussagen zum ersten Spielplan unter seiner Leitung, der natürlich erst den Theaterausschuss passieren muss, bevor er öffentlich wird. Einen Vorgriff - "die Stadträte mögen mir das verzeihen" - gab es dann aber doch bezüglich des Eröffnungswochenendes Anfang Oktober 2009. Den "Dreiklang Wagner, Lessing, Schleef" nannte Bücker diese Premieren: eine Uraufführung eines Stückes von Einar Schleef in Koproduktion mit dem Maxim Gorki Theater Berlin, Lessings "Nathan der Weise" und Wagners "Lohengrin". Drei Stücke, die zugleich programmatisch für die gesamte Spielzeit stehen, in der deutsche Autoren - neben einer großen französischen und einer Verdi-Oper - dominieren werden. "Ich bin gespannt, welche Linien wir finden, die die Sparten miteinander verbinden", sagte Bücker, der das Haus "stärker aus einem Guss" präsentieren und eben inhaltliche Fäden spartenübergreifend knüpfen will. Dass er dabei Bewährtes nicht außer Acht lassen will, brachte ihm Applaus ein. Der Tradition als Wagner- Bühne und als Aufführungsort für Verdis Werk sehe er sich verpflichtet. Noch öfter begleiteten Beifall oder Nicken an den Tischen die Aussagen des Gesprächsgastes. So für seine Erklärung des Prinzips Stadttheater, das nur funktioniert "wenn man in der Stadt lebt, wenn man weiß, was die Menschen hier bewegt". André Bücker hat ein ehrliches Interesse an diesen Dingen und unterstrich dies mit seinen Vorhaben, die weit über die Arbeit eines Theaters hinausgehen: Er erwähnte das 89er-Projekt zum Wendejubiläum (die MZ berichtete) ebenso wie "Luther / Schach", das das Theater in der Region verankern soll. Vieles, was den Dessauer Theatergängern in den letzten Jahren ans Herz gewachsen ist, wird es auch unter André Bücker geben. Gesprächsreihen vor und nach Premieren, theaterpädagogische Angebote, die Zusammenarbeit mit der Kirche oder anderen kulturellen Einrichtungen der Stadt. Was gut ist, soll nicht verschwinden, kann aber immer noch intensiviert oder ausgeweitet werden. "Ein Neuanfang ist immer eine kreative Explosion", sagte Dessaus künftiger Intendant. Wie diese zündet, darauf sind die Zuhörer nun mehrheitlich gespannt
Mitteldeutsche Zeitung Halle, 10.11.2008
Mit «89jetzt!» will der kommende Intendant André Bücker an das Wende-Jahr erinnern
von Andreas HillgerDESSAU/MZ. Gibt es da noch Erinnerungen? An die Demonstrationen auf dem Dessauer Rathausplatz und die Sitzungen des Neuen Forums unter dem Dach des Hotels "Stadt Dessau"? An die Gottesdienste in der Johanniskirche und die Vernichtung der Kampfgruppenwaffen? Der Herbst des Jahres 1989 zählt fraglos zu jenen Zeitläufen, die dem kollektiven Gedächtnis wie der privaten Erinnerung unvergesslich eingeschrieben sind - und die doch allmählich von Verklärung oder Frustration überlagert werden. Deshalb will der Regisseur André Bücker seine Generalintendanz am Anhaltischen Theater in Dessau im kommenden Jahr mit einem Projekt eröffnen, das unter dem Titel "89jetzt! - Eine Spurensuche" Dessauer Geschichte in Geschichten erlebbar macht. Erfahrungen mit solchen Recherchen hat Bücker bereits als Intendant des Nordharzer Städtebundtheaters sammeln können. Unter dem bei Hölderlin entlehnten Titel "Dem Gleich fehlt die Trauer" fragte Bücker dort am 8. April 2005 nach jenen Bildern, die sich bei der Zerstörung von Halberstadt 1945 in das Gedächtnis der Überlebenden eingebrannt hatten. Das Ergebnis der Arbeit, die zudem auf einen Text aus Alexander Kluges "Chronik der Gefühle" Bezug nahm, war ebenso anrührend wie aufrüttelnd. Wie damals soll auch diesmal ein Dialog der Generationen gestiftet werden: Dessauer Schüler sollen Eltern und Großeltern nach ihrer Rolle in den Wendetagen befragen. Die Protokolle dieser Gespräche sollen zum 20. Jahrestag des Mauerfalls an den neuralgischen Orten der Stadt gelesen werden. Perspektivisch ist daran gedacht, die Texte im Internet oder als Buch zu publizieren, um sie dauerhaft verfügbar zu machen. Bei ersten Kontakten mit Dessauern spürte Bücker bereits das spontane Bedürfnis, über den Herbst 1989 zu reden - und dabei sowohl von großen Träumen als auch von enttäuschten Hoffnungen zu sprechen. Als Ergebnis verspricht er sich "ein Kaleidoskop gegensätzlicher Erfahrungen - von der gewonnenen Freiheit bis zu den gefühlten Verlusten". Bücker will ein "Netz der Geschichten" über die Stadt legen, das von der Euphorie des Augenblicks wie von der späteren Depression im Angesicht hoher Arbeitslosigkeit und sozialer Unsicherheit erzählt. Um die öffentliche Wirksamkeit dieser lokalen Selbstverständigung zu erhöhen, will er für "89jetzt!" auch andere Partner aus der lokalen Kulturszene gewinnen - etwa die Dessauer Museen und Bibliotheken. Um die interne Einbindung im Anhaltischen Theater muss sich der künftige Hausherr im übrigen keine Sorgen machen: Seine erste Spielzeit wird sich dezidiert mit Themen wie Aufbruch und Aufklärung auseinander setzen und dabei vor allem deutsche Stoffe in den Blick nehmen. "Wir wollen", sagt Bücker, "Linien der Geschichte auf der Bühne verhandeln. Nicht als folkloristisches Heimattheater, sondern als Positionsbestimmung für die Zukunft." Dabei soll es weder um ein nostalgisches "Früher war alles besser" noch um ein verklärendes "Heute ist alles gut" gehen, sondern um die Frage, was sich aus der Vergangenheit für die Gegenwart lernen lässt. Dass das Publikum dabei seine Mündigkeit entdecken kann, indem es die eigenen Geschichten als Material für eine künstlerische Auseinandersetzung zur Verfügung stellt, ist ein zumindest für Dessau innovatives Prinzip - eine Einladung, die auch das Verhältnis des Theaters zu seiner Stadt neu definieren dürfte. "Wir bitten die Dessauer um ihre Erinnerungen, damit wir sie in Szene setzen können", so der Intendant.
Intendanten Tobias Wellemyer und André Bücker: Kürzung bedroht Theatersubstanz
Magdeburg/MZ. Das sachsen-anhaltische Kultusministerium hat kurz vor dem Beginn der Verhandlungen über die Verlängerung der Theater- und Orchesterverträge bekannt gegeben, dass die Landeszuwendungen künftig um insgesamt drei Millionen Euro gesenkt werden sollen. Über die Konsequenzen sprach die Mitteldeutsche Zeitung mit den Intendanten des Theaters Magdeburg und des Nordharzer Städtebundtheaters, Tobias Wellemeyer und André Bücker. Die Fragen stellten die Redakteure Andreas Montag und Andreas Hillger.
Herr Bücker, Herr Wellemeyer, unlängst haben Sie nach dem rechtsradikalen Überfall auf Halberstädter Schauspieler die Theater-Initiative "Republik der Phantasie" gegründet. Wie fühlt man sich, wenn nun vor allem Spar-Phantasien gefordert sind?
Wellemeyer: Was die Politik von den Theatern will, ist derzeit nicht erkennbar. Nach Jahren der strukturellen Ausdünnung stehen alle Häuser in Sachsen-Anhalt wieder vor einer diffusen Sparerwartung des Landes, die sich auf mindestens drei Millionen Euro beläuft. Dabei haben wir in der Vergangenheit bewiesen, dass wir die Konsolidierung mittragen - durch Haustarifverträge, Fusionen und Stellenabbau. Nach der Dessauer Theaterkonferenz, bei der man noch im Mai nicht über Geld reden wollte, ist nun ein Punkt eingetreten, wo ich mich in meinem Stolz und meiner Glaubwürdigkeit verletzt fühle.
Bücker: Was wir vermissen, ist eine Gestaltungsphantasie. Welche Zukunftsideen, welches Förderkonzept hat das Land? Es gibt nur die Zahl, die wir aus der Presse erfahren haben - nach der Konferenz, die Auftakt für Vertragsverhandlungen sein sollte. Das schürt den Verdacht, dass da eine Image-Maßnahme inszeniert worden ist.
Bei der Zahl von drei Millionen wird es nicht bleiben ...
Bücker: ... weil Kommunen und Kreise aufgrund der paritätischen Förderung geradezu aufgefordert sind, ebenfalls zu kürzen - oder das Defizit auszugleichen, was angesichts der Finanzsituation illusorisch ist. Durch diese Zwangslage wird die Vorgabe zynisch, weil sie den Rechtsträgern abermals den Schwarzen Peter zuspielt.
Wellemeyer: Immerhin hat sich der Magdeburger Oberbürgermeister öffentlich dazu bekannt, den derzeitigen Förderstatus aufrecht zu erhalten. Das ist bemerkenswert - auch wenn man wissen muss, dass tarifpolitische Entwicklungen und Teuerungen de facto dafür sorgen, dass eine gleich bleibende Summe zunehmend weniger Spielraum lässt. Eigentlich brauchen wir nicht nur die Zurücknahme der Kürzung, sondern eine Erhöhung um drei Millionen.
Fehlt Ihnen "höhere Einsicht" in die "Denkkultur" des Sparens, wie sie der Kultusminister fordert?
Wellemeyer: Vom Kultusministerium wünsche ich mir die heftigste Leidenschaft für Kunst und Kultur und weniger höhere Einsicht für Sparmaßnahmen. Die erwarte ich eher vom Finanzminister - so ist die Rollenverteilung.
Bücker: Aber es geht doch gar nicht um Kunst. Es wird mit keinem Wort gewürdigt, was die Bühnen überregional und international leisten. Das Magdeburger Theater war für den Deutschen Theaterpreis nominiert, die Oper Halle hat den Bayerischen Theaterpreis gewonnen, das Neue Theater Halle war zum Theatertreffen eingeladen. Das Nordharzer Städtebundtheater hat Inszenierungen mit der Kurt Weill Foundation New York und mit der Ständigen Konferenz Mitteldeutsche Barockmusik realisiert. Dessau, Eisleben und Stendal spielen regelmäßig jenseits der Landesgrenzen . das sind doch großartige Beiträge zur Außenwirkung unseres Landes. Und zwar nicht nur für ein Haushaltsjahr, sondern für größere Zeiträume.
Magdeburg gilt als gutes Beispiel, weil hier mit weniger Geld mehr Zuschauer erreicht worden ist.
Wellemeyer: Das ist eine unsinnige Analogie, die den enormen finanziellen Verzicht der Mitarbeiter ignoriert. Die Selbstausbeutung kann man doch nicht zum Ideal erheben - zumal die Konsequenz dieser populistischen Rechnung wäre, dass eine generelle Streichung als beste Theaterfinanzierung maximalen Publikumserfolg brächte.
Bücker: Wir halten im Nordharz ein Dreispartenhaus mit zirka sieben Millionen Euro Zuwendung aufrecht - das ist bundesweit absoluter Tiefstand. Nur dank dieser Anstrengungen gibt es uns überhaupt noch. Und nun werden wir für Erfolg bestraft. Ich bin es leid, langjährigen Mitarbeitern zu erklären, warum ich ihnen nicht das zahlen kann, was ihnen zusteht.
Was muss also passieren?
Bücker: Wir werden auf die Landtagsabgeordneten zugehen, mit der SPD-Fraktion hat es bereits ein Gespräch gegeben. Falls die Summe dennoch prozentual durchgereicht wird, sind die Bühnen in Eisleben, Halberstadt-Quedlinburg und Stendal definitiv zu.
Wellemeyer: An den verbleibenden Standorten würden mindestens die Haustarifverträge in Frage gestellt. Die Zahl von drei Millionen muss also sofort zurückgenommen werden, sonst entsteht ein Desaster - auch vor dem Hintergrund, dass die Summe aus juristischen Gründen im geplanten Zeitraum gar nicht abgebaut werden kann. Eine Entsolidarisierung der Bühnen aber wird es nicht geben.
Welches Argument geben Sie den Abgeordneten in die Debatte mit?
Bücker: Sie müssen bedenken, dass Substanzverlust droht - bis hin zur Jugendarbeit und zu den Musikschulen, an denen Orchestermitglieder unterrichten. Da soll niemand mehr über Bevölkerungs-Perspektiven klagen - denn damit wird sehenden Auges eine demografische Katastrophe herbeigeführt. Deshalb müssen wir darüber reden, in was für einem Land wir leben wollen - und welche Rolle unsere Theater darin spielen.
Wellemeyer: Was die Bühnen leisten, hat man in Halberstadt jüngst bei "Auf die Plätze!" gesehen. Da wurde auf einem Podium auch über Kultur als Voraussetzung der Zivilgesellschaft diskutiert - nur über das Theater, das die demokratische Aktion gegen Rechtsradikalismus organisiert hatte, sprach niemand. Theater ist offenbar so selbstverständlich wie Strom aus der Steckdose - und für eine zivilisierte Gesellschaft ebenso unverzichtbar.
In seiner ersten Spielzeit als Intendant am Nordharzer Städtebundtheater musste André Bücker mit einem drastisch reduzierten Etat das Theater künstlerisch auf Kurs halten.
von Ute Grundmann
Der Jägerzaun ist leuchtend rosa. Er umschließt ein Touristencafé, in dem die Menge schon mal kreischt, als sei Tokio Hotel im Anmarsch. Rechts und links vom rosa Zaun weisen Schilder zum Wirtshaus und zum Schloss. Mit diesem schön-schrägen Bühnenbild (Alrune Sera) für Lortzings „Wildschütz“ ist klar, wohin im Nordharzer Städtebundtheater die Inszenierungsreise geht: In Richtung Trash und TV-Soap. Intendant André Bücker geht in seiner ersten Opernregie diesen Weg konsequent und gekonnt. Die Baronin (Bettina Pierag), eine strahlend-lustige Witwe, kommt auf dem rosa Motorroller daher; ihre Zofe (Thea Rein) stellt Männerklischees aus und deutlich von Frauen-auf Männersprache um. Gefühle lösen bei den Herren Hüftwackeln aus und der Baron Kronthal (Xiaotong Han) schmettert seine Arie wie ein Popstar. Da sitzt jede Geste und jeder Gag, das verworrene Stück wird auf die Schippe genommen, aber nicht beschädigt. Und die Beziehungen der Figuren sind genau beobachtet und gearbeitet: Baculus ist der ewig-geprügelte Hund im zu engen Anzug, ein bebrillter Spießer mit ruhiger, trockener Komik, den die Aussicht auf 5000 Taler wie besoffen vom erhofften Geldsegen macht, von Klaus-Uwe Rein so volltönend wie selbstironisch gesungen. Und das Gretchen von Isabell Fricke kommt mit schönem Sopran, kokett und augenzwinkernd daher, versucht ihrem Bräutigam Rock’n’Roll beizubringen; man zickt und zankt auch am Rande des Geschehens. Das Orchester unter Torsten Petzold unterstützt das Ganze mit präzisen und spritzigen Klängen.Die erste Opernregie im ersten Jahr als Intendant des Nordharzer Städtebundtheaters: Der junge André Bücker legt gleich richtig los. Er hat alles zweimal: Zwei Häuser (Halberstadt und Quedlinburg), zwei Stadträte, zweimal Kulturpolitiker – nur leider keine zwei Etats. Und so ist seine erste Spielzeit hier auch die erste mit deutlich reduzierten Strukturen. 25 Prozent weniger als noch vor zwei Jahren hat man zur Verfügung. Statt 40 wurden „nur“ 35 gestrichen, weil das Orchester zusätzlich zum Haustarifvertrag auf zehn Prozent der Gage verzichtet. So rettete man wenigstens fünf von zehn gefährdeten Stellen. „Kein Haus hat in so kurzer Zeit so viel Geld einsparen müssen“, betont Bücker. 182 Mitarbeiter hat das Theater – und ist damit einer der größten Arbeitgeber in der Gegend. Dass bei 20 Prozent Arbeitslosigkeit das Thema auch auf die Bühne muss, ist für André Bücker völlig klar. Dabei wird es nicht nur begleitende Veranstaltungen zu Aufführungen geben. Den „Fallmanagern“ des örtlichen Arbeitsamtes werden Freikarten zur Verfügung gestellt, um sie gezielt an Arbeitslose weiterzugeben. Man will keine „Ramschaktion“, sondern Menschen, die aus Geldmangel von der Kultur abgeschnitten sind, wieder Zugang verschaffen.
„Wir sind hier das kulturelle Zentrum“, sagt André Bücker, „wir haben in der kulturellen und ästhetischen Bildung eine wichtige Funktion“. Und so gibt es eine Erwachsenen-Theater-Gruppe, Fortbildungen für Lehrer, eine Premierenklasse (die Inszenierungen begleitet), und eine Kooperation mit dem Gymnasium, um Theater einen Platz im Lehrplan zu verschaffen. Dabei kann der Intendant sich über sein Publikum nicht beklagen: „Dem kann man einiges zumuten. Kay Metzger hat hier Theater auf hohem Niveau etabliert, das muss man erst mal halten und dann weiterentwickeln. Und die Zuschauer gehen mit, wenn handwerklich-inhaltlich legitimiert ist, was auf der Bühne passiert.“ Nur gebe es noch zu viele Menschen, die zwar stolz auf das Theater seien, aber nicht oft genug hingingen. Das will man („wir sind die Platzhirsche, das müssen wir auch besetzen“) durch Präsenz ändern; die drei Sparten seien dabei „lebenserhaltend“. Denn André Bücker, der das Theater aus seiner Zeit als freier Regisseur mit zehn Inszenierungen kennt, ist überzeugt: „Das funktioniert nur so. Jede Stadt hat ihre Tradition, Quedlinburg im Schauspiel, Halberstadt im Musiktheater. Fällt eine Sparte weg, gibt es die Gefahr, dass eine Stadt aussteigt.“
500 Veranstaltungen bietet das Städtebundtheater im Jahr, davon die Hälfte auswärts. Eine Sommerpause gibt es nicht, stattdessen sieben Premieren und zwei Galas, im Bergtheater Thale, im Wasserschloss Westerburg, auf dem Quedlinburger Schlossberg, im Petershof in Halberstadt. Ein besonderes Projekt war Kurt Weills „Weg der Verheißung“ im Halberstädter Dom. Bückers Konzept für den ersten Teil überzeugte die kritische Weill-Foundation, so dass sie die Inszenierung nicht nur erlaubte, sondern auch mitfinanzierte. Und der Ort, an dem das Theater „mit allem, was wir zu bieten haben“ die Produktion stemmte, war ein besonderer: Vor den Türen des Doms wurden 1942 die Juden der Stadt zur Deportation zusammengetrieben. Solche Verbindungen zur Stadtgeschichte sind Bücker wichtig, auch bei seinem Projekt der Zeitzeugen-Lesungen an kriegszerstörten Orten Halberstadts.
Aber natürlich gibt es auch das „normale“ Repertoire. „Emilia Galotti“, der Schulklassiker, wurde in Bückers Regie zur am besten besuchten Schauspiel-Inszenierung der letzten Jahre. Und auch „Fräulein Julie“ in der Fassung und Inszenierung von Peter Lüder wurde gut angenommen. Christopher Melching schuf einen schönen Bühnenraum: rechts eine nüchterne Küche, links ein Stück Natur mit Baum und Wiese. Hier prallen Strindbergs Figuren wie mit Naturgewalt aufeinander, es gibt kein Rechts und Links für die Julie und Jean, nur das stürmische Geradeaus. Haye Grafs Jean ist ein bisschen ein Strizzi-Typ mit Anmach-Gesten, Julie (Margit Hallmann) ein aufgeregtes junges Mädchen auch mit Lust an der Unterwerfung. Kristin (Katrin Künstler) schließlich, streng und in Schwarz, lässt ihre Gefühle an ihrer Umgebung ab, schrubbt den Tisch, als wäre er schuld. Ausgeklammert ist allerdings die Figur des Grafen, dessen Stiefel dem Diener schon Angst machen und vor dem Julie den Aufstand probt. Peter Lüder konzentriert die Inszenierung auf die Liebesgeschichte zwischen Aggression und Gefühl.
All das schafft das Städtebundtheater mit deutlich reduziertem Ensemble; doch auch mit nur noch acht Schauspielern soll es im nächsten Jahr den „Faust“ geben: „Bei guter Planung sieht man das nicht“, ist Bücker überzeugt. Aber er weiß auch, dass die „chronische Überlastung“ der Mitarbeiter nicht ewig dauern kann, „das kann man nicht durchhalten, die Leute gehen kaputt“. Und so sind die Aktivitäten des Nordharzer Städtebundtheaters auf Kante genäht, wie Finanzpolitiker so gerne sagen. Die Theaterleute zeigen jetzt, was sie können, auch um zu signalisieren, „das geht nicht mehr, wenn ihr nicht mehr Kohle gebt.“
André Bücker, Intendant des Nordharzer Städtebundtheaters, im Volksstimme-Gespräch:
André Bücker will als neuer Intendant mit anspruchsvollen Projekten um Zuschauer werben. Dabei denkt er auch an besondere Formen des Theaters, „die wehtun“. Freilich will er niemanden verschrecken. „Wir sind doch keine Geisterbahn“, sagt er zur Volksstimme. Jürgen Hengstmann sprach mit ihm.
Volksstimme: Ihr Nordharzer Publikum kennt Sie längst als erfolgreichen Regisseur. Nun sind Sie seit 100 Tagen auch Intendant des Theaters. Intendanten sind heute angesichts gravierender Mittelkürzungen oft mehr Manager, Politiker, Konkursverwalter als Künstler. Theaterleiter zu sein – haben Sie das nicht schon längst bereut?
André Bücker: Nein, überhaupt nicht. Ich empfinde das als sehr schöne und aufregende Aufgabe. Man kann auch mit einem finanziell gebeutelten Theater wie dem Nordharzer etwas gestalten, Theater machen für die Region, für die Menschen, die hier wohnen.
Volksstimme: Dennoch: Hängen Ihnen diese ständigen Geldprobleme, dieser ganze Finanzierungskram nicht wie ein Mühlstein am Hals?
Bücker: Nein. Theater ist für mich ein Gesamtkonzept, da gehört der Umgang mit dem Geld dazu. Heutzutage kann man Theater nicht mehr machen abgehoben von der finanziellen Gesamtsituation. Die Zeiten sind vorbei, wo es klar war, dass das Geld kommt und es egal war, ob das Publikum kommt. Es muss jedoch auch klar sein, das niveauvolles Theater nicht umsonst zu haben ist.
Volksstimme: Es klingt fast so, als würden Sie die Last des Mühlsteins als Lust empfinden...
Bücker (lacht): Es gib schon eine sportive Lust, mit den Zwängen umzugehen. Ich geh‘ da extrem optimistisch ran. Wenn ich hier durch das Haus liefe und Frust verbreitete, würden das so sensible Leute wie Schauspieler, Musiker und Sänger intensiv wahrnehmen. Ich will aber den Leuten vermitteln: Hier geht es weiter, hier geht es um Theater, um Kunst, darum was zu schaffen, sich zu behaupten, Qualität zu leisten. Das zu vermitteln, das empfinde ich als große Aufgabe, und die macht mir Spaß.
Volksstimme: Ihr Vorgänger im Intendantenamt, Kay Metzger, ist erfolgreich auf dem schmalen Grat zwischen mutiger künstlerischer Innovation und dem Zwang zu vollen Häusern gewandelt. Ist das auch Ihr Anspruch?
Bücker: Ja, das will ich fortsetzen. Ich möchte Theater machen mit hohem Anspruch, und ich möchte volle Häuser. Ich will, dass dieses Haus gut besucht wird. Theater braucht man nur dann, wenn es Leute gibt, die es auch sehen wollen. Mein Anspruch ist es aber auch, Dinge abseits des klassischen Repertoires zu wagen, mal ein neues Stück, neue Sichtweisen zu präsentieren. Ich denke zum Beispiel auch an Projekte, die Schauspiel und Musiktheater spartenübergreifend fordern. Ich rechne auch da mit einem Potential neuer Zuschauer. Theater muss sich erneuern, Theater ist Veränderung.
Volksstimme: Empfinden Sie bei der Lust an Veränderung auch ein gewisses Vergnügen, das Publikum aufzuschrecken?
Bücker: Wir sind doch keine Geisterbahn. Ich glaube an die Inhalte des Theaters, ich glaube aber auch an die besonderen Formen im Theater, die manchmal wehtun können. Theater darf auch unbequem sein. Aber Provokation um ihrer selbst willen – das interessiert mich nicht. Mich interessiert eine inhaltlich legitimierte Auseinandersetzung, und die darf dann auch hart sein, darf Leute auch verstören. Aber das ist nicht mein primäres Anliegen.
Volksstimme: Ihre erste Schauspielinszenierung als Intendant ist „Emilia Galotti“. Sind die toleranten Intentionen des großen Aufklärers und Humanisten Lessing in unserer Zeit des Terrors, des religiösen Fundamentalismus und der oberflächlichen „Spaßgesellschaft“ nicht doch nur noch eine sympathische, aber lebensfremde Utopie?
Bücker: Gerade wenn es nicht in die Zeit passt, dann ist es ja um so nötiger. Zeitgeist – das ist nicht etwas, was mich wirklich interessiert. Man muss dem ganzen Wahnsinn, der um uns herum tobt, eine Utopie, eine Vision gegenüber stellen – dafür ist das Theater sehr geeignet. Wir sind ein analoges Medium in Zeiten des digitalen Overkills. Wir leben in einer überbeschleunigten Welt. Darin kann das Theater eine Insel sein, ein Ort der Entschleunigung. Hier kann man mal wieder einer Sache zuhören, sich zurücknehmen, sich zu einem Text und seiner Interpretation verhalten, statt nur passiv zugeknallt zu werden mit Überinformation.
Volksstimme: Kann Theater wirklich die Gesellschaft verändern?
Bücker: Ich hoffe das ja immer noch. Theater ist politisch. Theater ist ein öffentlicher, also politischer Vorgang. So ist es seit der Antike. Ein einzelner Theaterabend kann die Welt nicht verändern. Aber ich glaube, dass Leute aus dem Theater rausgehen und was mitnehmen können. Es gibt Abende, die einen berühren, die einem etwas zeigen, im besten Fall etwas vorführen, worin man sich selbst erkennt. Was dann die Menschen daraus machen – das ist etwas anderes. Erkenntnis und Handeln liegen bekanntlich immer weit auseinander.
Volksstimme: Aber ist das Theater heute im öffentlichen politischen Diskurs noch so präsent wie vor zwanzig Jahren? Ist es heute nicht viel mehr Amüsement als produktives Ärgernis?
Bücker: Das wird vielleicht manchmal so wahrgenommen. Aber denken Sie doch mal an die „Weber“-Inszenierung in Dresden, eine ganz wichtige Aufführung. Da ging doch ein Aufschrei durch die Lande. Wissen Sie, woher das kommt? Das kommt daher, dass im Theater mit Akteuren und Publikum reale Menschen miteinander konfrontiert werden. Dann entsteht dieser lebendige Dialog, den kein Film und kein Fernsehen leisten kann. Dieser Dialog zwischen Zuschauerraum und Bühne, der ist so direkt: Zuschauer und Akteure reagieren aufeinander. So verändert sich eine Aufführung, so verändern sich aber auch die Zuschauer.